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"Es darf keinen Druck geben, niemandem zur Last zu fallen"
Mitte November will der Bundestag über Beihilfe zum Suizid verhandeln. Das Thema ist nicht einfach - es gibt verschiedene Meinungen über Sterbehilfevereine und ärztliche Suizidhilfe. Eine klare theologische Position bezieht Pastor Ingo Habenicht vom Evangelischen Johanneswerk, einem großen Altenhilfe-Träger in NRW.
23.10.2014
Evangelisches Johanneswerk
Claudia Herrmann

Herr Habenicht, warum bewegt uns das Thema Sterbehilfe so sehr?

Ingo Habenicht: Ich vermute, weil die meisten Menschen Angst haben vor dem Sterben und der Zeit davor, in der sie vielleicht stark eingeschränkt sind, starke Schmerzen haben oder auf andere Art sehr leiden. Diese Ängste kann ich auch verstehen. Die Debatte wird von vielen also geführt mit Blick auf das eigene Lebensende.

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Können Sie nachvollziehen, dass es Situationen gibt, in denen ein Mensch sterben möchte?

Habenicht: Ja, und alles andere fände ich auch unbarmherzig und unmenschlich. Auch die Bibel kennt solche Situationen, zum Beispiel, dass Menschen irgendwann alt und lebenssatt sind.

Hat ein Mensch aus Ihrer Sicht das Recht, über das Ende seines Lebens selbst zu entscheiden?

Habenicht: Es hat theologische Traditionen gegeben, die gesagt haben: Das Leben ist von Gott geschenkt, also darf der Mensch es selber nicht beenden. Diese Position finde ich heute nicht mehr haltbar. Ein Geschenk kann man auch ablehnen. Aber: Ein Mensch lebt ja nicht für sich allein. Wir sind mit anderen verbunden. Die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, kann man meiner Meinung nach nicht losgelöst von Beziehungen betrachten. Ich würde sagen, wir stehen in einem Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung und Verbundenheit mit anderen.

Der ehemalige MDR-Intendant Udo Reiter, der sich vor wenigen Tagen das Leben nahm, wollte "nicht als Pflegefall enden". Was würden Sie antworten?

Habenicht: Zu den Motiven und Auffassungen einzelner Menschen möchte ich mich nicht äußern, dazu müsste man diese Menschen zum einen sehr gut kennen und zum anderen wäre das ein sehr persönliches, intimes Thema. Generell ist mir aber wichtig, zu sehen, dass wir als Menschen schon bei unserer Geburt und in den ersten Lebensmonaten und -jahren "Pflegefälle" sind: auf andere Menschen und deren Fürsorge, Pflege und Unterstützung angewiesen. Das Bild eines autonomen, autarken, völlig selbstständigen Menschen fände ich dann auch für einen Erwachsenen gesellschaftlich fatal, sachlich falsch, ja inhuman. Und wenn wir am Ende des Lebens wiederum stärker Betreuung und Pflege benötigen, dann ist das passend und gehört ganz normal zum Leben dazu.

"Wie will man denn feststellen, wann wirklich 'extremer Leidensdruck' gegeben ist?"

Bei dem neuen Gesetz geht es unter anderem um eine Zulassung ärztlicher Sterbehilfe, also etwa die Bereitstellung eines Mittels zur Selbsttötung. Halten Sie das für richtig?

Habenicht: Johannes Rau ist gegen die Legalisierung von Assistenz beim Suizid mit folgenden Worten eingetreten: "Wo das Weiterleben nur eine von zwei legalen Optionen ist, wird jeder rechenschaftspflichtig, der anderen die Last seines Weiterlebens aufbürdet." Das sehe ich auch so: Einen gesellschaftlichen Druck, am Ende des Lebens niemandem zur Last zu fallen und deshalb sterben zu sollen, darf es nicht geben. In den Niederlanden kann man sogar statistisch nachweisen, dass das sehr schnell geschehen kann. Deshalb stehe ich dieser Position skeptisch gegenüber.

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Die Arbeitsgruppe schlägt vor, dass eine Reihe Bedingungen für die Beihilfe zum Suizid erfüllt sein muss, zum Beispiel Volljährigkeit und "extremer Leidensdruck". Kann eine solche Entscheidung mit einer Checkliste legitimiert werden?

Habenicht: Nein, das keinesfalls. Und wie will man denn feststellen, wann wirklich "extremer Leidensdruck" gegeben ist? Und woran leidet der Mensch: an der Krankheit? Oder daran, anderen zur Last zu fallen? – Aber wenn man schon die Beihilfe zum Suizid ausdrücklich legalisieren will, dann muss man wenigstens die Schranken darum, wann das zulässig ist und wann nicht, sehr hoch setzen. Sonst entsteht bei uns die Situation wie etwa in den Niederlanden, wo nachweislich seit der Legalisierung aktiver Sterbehilfe pro Jahr ungefähr tausend Menschen ohne deren Bitte oder Einwilligung getötet werden.

In einer aktuellen Umfrage sprechen sich 77 Prozent der Deutschen für ärztliche Sterbehilfe aus. Zeigt das nicht ein Bedürfnis der Menschen nach einer Möglichkeit, auch am Ende des Lebens selbst entscheiden zu dürfen?

Habenicht: Ja, das zeigt es. Die Aussage muss man zur Kenntnis nehmen, aber die Antwort ist aus meiner Sicht nicht, einfach der Mehrheit zu folgen. Man sollte hinschauen: Wo ist hier eigentlich das Problem, wo sind die Herausforderungen?

Und wo sind die Herausforderungen?

Habenicht: Unter anderem darin, dass wir in einer an Leistung, Effizienz und Rationalisierung orientierten Gesellschaft leben, in der zählt, dass man viel schafft. Wer nichts schafft, droht runterzufallen. Ich finde, es ist kein Zufall, dass in unserer Gesellschaft diese Debatte immer wieder aufgegriffen wird.

"Wenn jemand sich wünscht, dass der liebe Gott ihn holt, dann ist das sein Wunsch, der sich entweder erfüllen wird oder nicht"

Welche Möglichkeiten gibt es, das Lebensende zu gestalten?

Habenicht: Die ärztliche Aufgabe ist es, die Schmerzen zu lindern – die Möglichkeiten der Palliativmedizin haben sich enorm verbessert. Aufgabe der Pflege ist es, das Leben möglichst lebenswert zu gestalten: also nicht Hilfe zum Sterben zu geben, sondern zum Leben. Aber auch das Gespräch ohne Tabus gehört dazu, Offenheit in der Begegnung und Verständnis.

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Das Johanneswerk möchte Menschen in seinen Alteneinrichtungen eine würdevolle Begleitung bis in den Tod ermöglichen. Was bedeutet würdevoll?

Habenicht: Würdevoll heißt zunächst mal, so gut wie möglich herauszufinden, was der Mensch für sich will oder wollen würde oder bisher immer gewollt hat. Wir versuchen, auch unter sehr eingeschränkten Bedingungen das herzustellen, was dem Mensch immer für seine Würde wichtig war. Es geht da um Respekt vor der Person und seinen Impulsen, um den Schutz seines Willens soweit wie möglich.

Wie gehen Ihre Mitarbeitenden in den Alteneinrichtungen konkret damit um, wenn ein Bewohner den Wunsch äußert, zu sterben?

Habenicht: Ich hoffe, dass sie Verständnis haben für den Wunsch, dass sie ihn aushalten und nicht sofort wegwischen. Dass sie sich dann Zeit nehmen, darüber zu sprechen: Warum eigentlich? Was können wir für Sie tun? Wenn jemand konkret sagt, bitte schalten Sie die Geräte ab, dann kommt es häufig zu einem ethischen Fallgespräch mit allen Beteiligten. Wenn jemand sich wünscht, dass der liebe Gott ihn holt, dann ist das sein Wunsch, der sich entweder erfüllen wird oder nicht.