Die Einladung ist noch immer gültig: "Nikolaikirche – offen für alle" steht auf allen Fahrradständern rund um die evangelische Kirche in der Leipziger Altstadt. Tausende Menschen laufen jeden Tag auf dem Kopfsteinpflaster am Kirchenportal vorbei, viele schauen zumindest kurz in das fast 850 Jahre alte Gotteshaus hinein. Unter diesem Kirchendach versammelten sich in der Endphase der DDR die verschiedensten oppositionellen Gruppen, von hier aus wurde der Protest 1989 auf die Straße getragen. Vorangegangen war stets ein Friedensgebet am Montagabend. Das gibt es heute noch, allerdings meist ohne anschließende Demonstration.
"Setz dich schon mal hin" sagt Nancy Kühn zu ihrer Tochter. "Wohin?" fragt die Sechsjährige. "Na, da, wo wir immer sitzen", gibt Kühn zurück und schiebt die Tochter in Richtung der vorderen Kirchenbänke. Die 32 Jahre alte Mutter kommt regelmäßig zum Friedensgebet, um sich vom Alltag zu erholen. Kühn ist erst vor elf Jahren "zur Kirche gekommen", wie sie sagt. Seitdem ist das Friedensgebet in der Nikolaikirche eine feste Institution in ihrer Woche. Ihr gefällt besonders, dass der Abend immer von verschiedenen Gruppen vorbereitet wird, die alle ein persönliches Anliegen und einen Blick auf die unterschiedlichen Konfliktregionen der Welt haben.
Information, Verkündigung, Gebet
In dieser Woche wird das Friedensgebet vom Leipziger Flüchtlingsrat gestaltet. Leiterin Sonja Brogiato prangert mit scharfen Worten den Rechtsruck bei Wahlen in ganz Europa an. Einige Zuhörer fangen an zu tuscheln, rutschen nervös auf den Kirchenbänken hin und her. Als eine Kollegin von Brogiato über die Flüchtlingshilfe in der nordirakischen Kurdenstadt Erbil berichtet, wird es wieder still. "Flucht und Not sind jedem Kurden ins Gedächtnis gebrannt", sagt die junge Frau. "Ich frage mich, welche Erinnerung Deutsche an ihre Kriege haben."
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Die deutlichen politischen Worte, das Aufrütteln ist eines der zentralen Elemente des Friedensgebetes in der Nikolaikirche. Auf die Information, die Worte der Betroffenheit, folge die Verkündigung, erklärt Pfarrer Bernhard Stief. Abschließend werden stets Fürbitten gehalten, begleitet wird das Gebet von Orgelmusik und Gesang.
Stief ist seit 2008 Pfarrer an der traditionsreichen Kirche. Der 45-Jährige war damals auf den langjährigen Nikolaikirchen-Pfarrer Christian Führer gefolgt, der als ein wichtiger Wegbereiter für die friedliche Revolution gilt und auch 1986 die Einladung "Nikolaikirche – offen für alle" an dem Gotteshaus anbringen ließ – natürlich nicht zur Freude des SED-Regimes. Vor wenigen Monaten, an einem Montag Ende Juni, ist Führer nach langer Krankheit gestorben. Obwohl er schon lange nicht mehr der Gemeindepfarrer gewesen sei, fehle er, sagt Stief. "Den Platz kann so keiner ausfüllen."
"Manches müssen wir abgeben"
Die Geschichte der Friedensgebete beginnt aber nicht mit Christian Führer und der Nikolaikirche, sondern mit einer Episode des Zufalls am südöstlich Stadtrand. In der evangelischen Gemeinde im Stadtteil Propstheida kam es 1982 zu einer Terminüberschneidung im Versammlungsraum – an einem Abend standen sich die eher betagten Teilnehmer des Bibelkreises und die Junge Gemeinde gegenüber. Die ungewöhnliche Gruppe kam ins Gespräch, besonders die älteren Frauen fragten nach den Belangen der Jugend und wunderten sich, dass diese mit ihren Aufnähern "Schwerter zu Pflugscharen" Ärger mit dem Staat riskierten. Die Jugendlichen antworteten lebhaft; der Wehrkundeunterricht an den Schulen und die faktische Verpflichtung zum Militär besorgten sie sehr.
Aus diesem Treffen wurde der Wunsch geboren, nicht nur zur Friedensdekade an zehn Tagen im November für Frieden zu beten, sondern regelmäßig, jede Woche, mitten in der Stadt. Der Kirchenvorstand von St. Nikolai zögerte erst und öffnete dann doch vorsichtig die Kirchentür. Was als Randveranstaltung mit nur einer Handvoll Teilnehmer begann, entwickelte sich im Herbst 1989 zum Zentrum der friedlichen Revolution. Bevor es auf die Straße ging, wurde immer gebetet, für Frieden und Freiheit.
Von Anfang an waren die Friedensgebete von verschiedenen Gruppen getragen und sie sind es noch heute. Politisch sind sie immer, auch wenn sich die Themen geändert hätten, meint Pfarrer Stief. Direkt nach der Wende drückte die Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, dann immer wieder Krieg, vom Irak bis zur Ukraine. Das Friedensgebet sei auch dafür da, dass Konflikte erst einmal benannt würden, sagt Stief. Ein wichtiger Teil bestehe darin, Gott zu bitten, dass er die Menschen vor Ort sensibilisiere und befähige, etwas zu ändern. Das bedeute aber nicht, dass man selbst sich zurücklehnen könne. "Manches müssen wir abgeben", sagt der Pfarrer. Aber die Gebete sollten auch die Kraft und den Mut geben, sich selbst für den Frieden einzusetzen.
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Als die Orgel erklingt, erheben sich die Menschen und geben ihre Gesangbücher ab. Vor dem Kirchentor verstreut sich die Gemeinde, jeder geht im Nieselregen seines Weges. Nächsten Montag wird es wieder ein Friedensgebet in der Nikolaikirche geben.