Die moderne Medizin bietet Möglichkeiten, Krankheiten, die früher als Schicksal hingenommen werden mussten, in den Arm zu fallen. Das fängt beim Impfen und dem Einsatz von Antibiotika und an und geht über Vorsorgeuntersuchungen, Reproduktionsmedizin und pränatale Diagnostik bis zur Transplantationsmedizin und pharmazeutischen Mitteln der Selbstoptimierung. Sie betonen dagegen, dass Leben ein Prozess des Sich-Einrichtens ist. Liegt es nicht im Wesen der Medizin, gegen schicksalhafte Krankheiten anzugehen?
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Giovanni Maio: Das ist ein großes Missverständnis. Mir geht es nicht um eine neue Schicksalsergebenheit. Im Gegenteil! Mir geht es darum, dass der Mensch frei bleibt, aber er kann das nur, wenn er sich nicht vom Diktat der Machbarkeit irreleiten lässt, sondern wenn er sich auf seine eigenen Vorstellungen vom guten Leben rückbesinnt. Mein Buch ist ein Plädoyer dafür, einen guten Umgang mit dem zu erlernen, was wir nicht ändern können. Es geht darum, sich eben nicht zu verhaken in den technischen Möglichkeiten, sondern darum, eine gesunde Balance zu finden zwischen dem Machenkönnen und dem Annehmenlernen.
Sie fordern einen Abschied vom "technischen Imperativ" und warnen vor einem "Sog" des medizinisch Möglichen, bei dem alles, was machbar ist, auch ausgeschöpft wird oder werden muss. Welche Bereiche haben Sie dabei besonders im Blick?
Maio: Der Sog entsteht am Anfang des Lebens wie auch am Ende des Lebens. Am Anfang glauben wir immer mehr, dass wir eine moralische Pflicht gegenüber der Gesellschaft hätten, die Kinder erst "durchzumustern", bevor wir ja zu ihnen sagen. Und am Ende glauben wir, dass wir auch den Tod "machen" sollten, anstatt auf ihn zu warten. Der gesunde Umgang mit dem Gegebenen ist uns abhanden gekommen, und dadurch fühlen wir uns ständig vom Scheitern bedroht. Wie entlastend kann es sein, sich neu vor Augen zu führen, dass wir Kinder nur empfangen, nicht auswählen können und dass der Tod das ist, was wir in Gemeinschaft erwarten dürfen, ohne dass wir am Ende des Lebens etwas zu leisten bräuchten, um als wertvolle Menschen anerkannt zu werden.
"Nicht in eine totale Abhängigkeit von Technik geraten"
Wo sehen Sie etwa die Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten bei der Behandlung eines Paares mit unerfülltem Kinderwunsch, das sich entschließt, die Hilfe der Reproduktionsmedizin in Anspruch zu nehmen?
Maio: Diese Paare sind in Not; sie suchen händeringend nach jemandem, der ihnen Perspektiven für ihr Leben aufzeigt, und es ist wichtig, dass man als Arzt auch den Weg der Technik geht. Aber die Paare dürfen nicht in der Weise geblendet werden, dass ihnen vermittelt wird, die Technik werde in jedem Fall ihr Problem lösen. Denn genau das ist immer noch bei der Mehrzahl der Paare nicht der Fall, dass es dann immer noch Plan B gibt. Die Paare dürfen nicht mit überstrapazierten Hoffnungen in eine totale Abhängigkeit von Technik geraten, sondern ihnen muss geholfen werden, dass sie von Anfang an realisieren, die Technik ist nur ein Weg. Der andere Weg ist die Beschäftigung mit alternativen Lebenskonzepten.
Welche Verantwortung müssten Mediziner denn wahrnehmen, damit bei Paaren und in der Gesellschaft nicht so etwas wie ein Anspruch auf ein gesundes Kind entsteht?
Maio: Der Anspruch der Gesellschaft ist leider schon da, denn Schwangere internalisieren diese soziale Erwartung an sie. Viele glauben, als verantwortungsbewusste Schwangere seien sie es der Gesellschaft sozusagen schuldig, ein "qualitätsgesichertes" Kind zur Welt zu bringen, indem sie alle möglichen Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen. Dieser Druck muss von ihnen genommen werden, und dabei sollte die Medizin in zentraler Weise unterstützend wirken.
Wie kann sie das tun?
Maio: Indem sie den Paaren hilft, ihren individuellen Umgang mit der Schwangerschaft zu finden, ihnen hilft, ein Rückgrat gegen diesen sozialen Druck zu entwickeln, weil es um das eigene gute Leben geht und nicht um Anpassung um jeden Preis. Ärzte müssten viel deutlicher machen, dass jede Schwangere auch ein Recht auf Nichtwissen hat. Dieses Recht muss man sich gemeinsam neu erkämpfen.
"Die inneren Heilkräfte des Patienten, die immer da sind, werden viel zu wenig berücksichtigt"
Wo sollte denn für Patienten der Punkt liegen, an dem sie sich einrichten mit ihrem Geschick? Sollen ein kinderloses Paar oder ein Krebskranker sich einfach mit seinem Schicksal abfinden?
Maio: Am Anfang des Lebens gilt es, die technischen Möglichkeiten zu nutzen, aber eine Obsession, eine Verbissenheit dabei zu vermeiden. Letzten Endes muss man, so schwer es auch fällt, auch offen dafür bleiben, dass man trotz Technik auch ohne Kinder bleiben könnte, und dass man für diesen Fall nicht selbst daran schuld wäre, sondern auch diesen Weg als Auftrag zu begreifen. Auch am Ende des Lebens glauben Menschen, dass sie alles versuchen sollten, weil sie sonst glauben, selbst schuld zu sein, wenn der Krebs weiterwächst. Ich finde, dass wir hier zu einseitig auf die technisch-medikamentöse Therapie schielen und dabei vergessen, dem Patienten dabei zu helfen, mit der Krankheit zu leben. Wenn ihnen suggeriert wird, dass die Chemotherapie eine große Chance ist, obwohl die Studienlage etwas anderes sagt, dann versteifen sich auch hier die Menschen auf die Chemotherapie.
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Sie vergessen dabei, dass auch das Kranksein wertvolles Leben ist und dass man selbst, wenn man unheilbar krank bleibt, viele Ressourcen hat, um seinen eigenen Weg mit der Krankheit zu finden. Einen Weg, durch den wir erkennen, dass wir auch als unheilbar Kranke dennoch Gestalter unseres Lebens bleiben können. Diese inneren Heilkräfte des Patienten, die immer da sind, werden viel zu wenig berücksichtigt, weil die Medizin zu gerne in Apparate und Medikamente flüchtet anstatt über diese essentiellen Lebensfragen zu sprechen, was eben Zuwendung, Zeit, Empathie erforderlich machen würde.
Gibt es einen "dritten Weg" zwischen Schicksalsergebenheit und moderner Hochglanzmedizin, die Leidensfreiheit, technische Machbarkeit, Gesundheit und Wahlfreiheit suggeriert? Welche Grundhaltung wäre nötig, um diesen Weg zu finden und zu gehen?
Maio: Zum einen die Grundhaltung der Gelassenheit und auch der Demut, um sich nicht zu sehr zu versteifen auf die Vorstellung, dass man nur dann gut leben kann, wenn der Krebs besiegt wird. Zum anderen die Grundhaltung der Dankbarkeit. Dankbarkeit für das Leben, das man immer noch hat, auch wenn es anders verlaufen wird als man sich das erhofft hatte. Aber es bleibt Leben, das uns bereichern kann, wenn wir dieses Leben als etwas Gegebenes betrachten lernen, als eine tägliche Chance, mit anderen Menschen in Beziehung zu bleiben.
Wie kann die moderne Medizin zu dem beitragen, was Sie ein "gutes Leben" nennen?
Maio: Sie muss unbedingt ihr mechanistisches Menschenbild revidieren und sich darauf besinnen, dass Heilung keine Reparatur ist, sondern ein Beziehungsgeschehen. Heilung ist nicht einfach das Resultat eines Medikamentes, sondern sie bleibt ein Ereignis, das sich einstellen kann, wenn der Arzt eine echte Begegnung mit dem Patienten ermöglicht, eine zwischenmenschliche Begegnung, die dem Patienten das Gefühl des Sich-Getragen-Wissens vermittelt. Dieses Gefühl ist eine starke Ressource, durch die der Mensch Hoffnung schöpfen kann und Lebenswillen. Die Begegnung ist ein Wirkfaktor, auf den sich eine ganzheitlich denkende Medizin neu besinnen muss.
"Das Streben nach Perfektion lässt uns blind werden für den Wert, den man nicht herstellen kann"
Sie fordern, Ärztinnen und Ärzte sollen "weise Ratgeber" sein. Was zeichnet denn solche weisen Ratgeber aus?
Maio: Weise kann man nur dann beraten, wenn man befähigt wird, das Ganze zu sehen. Den Menschen in seiner Ganzheit zu sehen, bedeutet anzuerkennen, dass der Mensch durch das Krankwerden in eine existentielle Krise gerät, den unweigerlichen Sinnfragen aufwirft. Der weise Ratgeber ist insofern ein Person, die bei der Beratung und Behandlung nicht beim bloß Zweckrationalen stehenbleibt und sich auf reine Sachinformationen beschränkt, sondern der zugleich auch den Sinngehalt mit reflektiert und in größeren Horizonten denkt, die das rein Mechanistische und Naturwissenschaftliche übersteigen.
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Derzeit schafft der Numerus Clausus eine Generation von Medizinerinnen und Medizinern, die wenig Scheitern, aber viel Erfolg und Leistungsstärke mitbringen muss, um überhaupt ins Studium zu kommen. Das scheint nicht unbedingt eine gute Voraussetzung für eine weise Ethik der Besonnenheit zu sein, in der Werte wie Demut und Dankbarkeit wichtig sind.
Maio: Ich erlebe diese jungen Medizinstudierenden im Hörsaal als eine wirklich verheißungsvolle Generation, weil diese jungen Menschen fast durch die Bank von einer sozialen Grundmotivation getragen sind. Diese Motivation wird ihnen durch die naturwissenschaftliche Vereinseitigung während des Studiums ausgeredet. Wir haben die richtigen Studenten, wir müssten nur eine gute zwischenmenschliche Prägung während der Sozialisation erzielen. Daran hapert es aber leider gewaltig.
Sie sprechen davon, dass in der Medizin "in Demut und Behutsamkeit" der Gabencharakter allen Lebens wieder entdeckt werden müsse. Haben Sie nicht die Sorge, dass das in unserer Gesellschaft, die weithin auf Leistung, Fitness und Perfektion setzt, ein frommer Wunsch bleibt? Medizinische Forschung lässt sich doch wohl nicht aufhalten?
Maio: Mir geht es auch nicht darum, die Forschung aufzuhalten, sondern darum, Forschung mit einer anderen Grundhaltung zu vollziehen. Die besten und klügsten Forscher wissen um die Grenzen ihrer Erkenntnis und die Grenzen ihrer Einflussmöglichkeiten. Heute muss sich Forschung selbst vermarkten und verirrt sich in eine Zelebrierung von Heilsversprechungen, die sie nie wird einlösen können. Daher ist mein Anliegen, sich auf Werte wie Demut und Behutsamkeit neu zu besinnen, eine Grundvoraussetzung dafür, um nicht nur solide Forschung zu betreiben, sondern um überhaupt ein gutes und erfülltes Leben führen zu können. Das Streben nach Perfektion lässt uns blind werden für den Wert, den man nicht herstellen kann, sondern der vor unseren Füßen schon liegt, denn der Wert unseres Lebens liegt nicht in dem perfekten Können, sondern er liegt in der Brillanz des Lebens selbst, in der Brillanz eines jeden Lebens, das in sich nicht nur unverwechselbar, sondern zugleich unersetzbar ist.