Zwei Kinder am Klavier
Foto: MGH Öhringen
Musik, Kunst, Computer, Tanzen: Im Mehrgenerationenhaus Öhringen können die kleinen und großen Besucher so einiges ausprobieren.
Öhringen: Das ganze Dorf in einem Haus
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: "Um ein Kind groß zu ziehen, braucht es ein ganzes Dorf." Die Evangelische Kirchengemeinde Öhringen (Baden-Württemberg) hat das ernst genommen: In einer von Individualisierung und Mobilität geprägten Zeit bietet sie Kindern, jungen Eltern, Jugendlichen und Senioren in ihrem Mehrgenerationenhaus die Chance, Leben zu teilen und voneinander zu lernen. Ein Beispiel für gute Gemeindearbeit in unserer Serie "Jetzt erst recht!"
26.09.2014
Susanne Müller

Der fünfjährige Lukas drückt sich im Flur des Kindergartens die Nase an einer Glaswand platt. Gleich nebenan im Bistro wird lebhaft diskutiert. Das Planungsteam bei der Arbeit: Wann ist der Band-Raum frei für eine neue Musikgruppe? Wer übernimmt den Thekendienst am Donnerstagmorgen im Bistro? Der Terminplan füllt sich. Lukas bekommt heute nur ein Lächeln ab. An anderen Tagen geht aber die Glastür zum Kindergarten auf: Dann kommen Großmütter, die den Kindern vorlesen, auch wenn es nicht ihre eigenen Enkel sind, Großväter, die mit ihnen basteln, oder ein Pianist, der mit Eltern und Kindern singt. Kinder und Senioren gehen gemeinsam schwimmen oder backen Weihnachtsplätzchen. Der Kindergarten ist Keimzelle und Mittelpunkt des Mehrgenerationenhauses in Öhringen.

Das Mehrgenerationenhaus Öhringen

Angefangen hat alles 1999. Kindergartenleiterin Karin Haist und der damalige Gemeindepfarrer Hans-Martin Bauer machten aus dem evangelischen Kindergarten ein Nachbarschaftszentrum. Ein Elterncafé und Familiennachmittage, Spielkreise, Kino und Bewegungsangebote entwickelten sich in der Zusammenarbeit zwischen Kindergartenteam, Eltern und Gemeinde. Im Jahr 2008 war es so weit: Aus dem Nachbarschaftszentrum wurde ein Mehrgenerationenhaus im Rahmen eines bundesweiten Projekts. Bisher erhielt das Haus daraus jährlich einen Zuschuss von 30.000 Euro. "Wir wirtschaften sehr sparsam, aber Betriebskosten von 70 bis 100.000 Euro müssen doch gedeckt werden", sagt die Kirchengemeinderatsvorsitzende Renate Schimmel. Kirchengemeinde, Stadt, Stiftungen und Spender sorgen mit Überzeugung dafür, dass der Betrieb auch finanziell läuft.

Seit diesem Herbst hat das Mehrgenerationenhaus ein passendes Gebäude. Für 3,2 Millionen Euro wurden der Kindergarten, ein rund 100 Jahre altes Gemeindehaus und neue Bauelemente miteinander kombiniert. Das Haus am Rande des Öhringer Stadtkerns in der Nähe mehrerer Schulen ist kompakt, zweckmäßig und geräumig. Noch riecht es nach frischer Farbe. "Aber wir haben schon auch vor, mal ein Bobbycar-Rennen im großen Saal zu veranstalten", lacht Karin Haist. Das wird nicht ohne den einen oder anderen Kratzer im Boden abgehen. "Aber wohnen bedeutet ja auch nutzen", ergänzt die Kindergartenleiterin.

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Ein wichtiges Ziel des Mehrgenerationenhauses ist, Familien zu unterstützen, die nicht auf die Ressourcen einer eigenen Großfamilie zurückgreifen können. "Das Elterncafé beispielsweise ist ein Treffpunkt. Man redet darüber, welchen Kinderarzt man gut findet, was es an kindgerechten Freizeitmöglichkeiten gibt oder vereinbart eine spontane gegenseitige Kinderbetreuung", berichtet Haist.

Darüber hinaus ist die Palette an Begegnungsmöglichkeiten und Angeboten in dem neuen Haus immens. Es gibt das Café international, in dem viele Sprachen gesprochen werden. Eine Demenzgruppe kommt ins Haus, der Hospizdienst hat dort sein Büro. Der Freundeskreis Asyl kommt mit mehreren Gruppen. Konfirmandenunterricht findet statt und ein Spielkreis für die ganz Kleinen. Ab Herbst 2015 wird es voraussichtlich ein Schülermittagessen geben.

"Menschen bekommen hier einen ganz persönlichen Bezug zur Kirche"

Mittwochs ist Chortag für Kinder. Die Eltern plauschen derweil im Bistro. Die Kinder üben für Konzerte, die dann in der Öhringer Stiftskirche stattfinden. "So kommen nicht nur Kinder und Eltern, sondern auch Omas, Opas, Tanten und Onkel öfter als üblich in die Kirche", berichtet Karin Haist. Manche wüssten zunächst gar nicht, wo denn die Stiftskirche sei. Nach dem Konzert wissen sie’s dann: direkt am Marktplatz. Auch zum "Gottesdienst für kleine Leute", den das Mehrgenerationenhaus mit der Erzieherinnen-Fachschule am Ort gemeinsam anbietet, kommen viele Menschen, "die mit Kirche vorher gar nichts anzufangen wussten. Und plötzlich merken sie: eigentlich ist Kirche ja gar nicht schlimm."

Falls es zu Hause keine Oma gibt, die vorlesen könnte: Im Mehrgenerationenhaus findet man ganz sicher eine.

"Ein Mehrgenerationenhaus bauen und dann automatisch auch die Kirche voll haben – so läuft das natürlich nicht", lacht Renate Schimmel. "Aber es ist ganz offensichtlich, dass das Konzept Mehrgenerationenhaus das Miteinander fördert – vom Kindergartenalter an." Da organisiert der Schülertreff einen PC-Crashkurs für Senioren, da laden Ältere die Kindergartenkinder zum Kochen ein und ein ortsansässiger Arzt berichtet von einer Reise nach Indien. Diakon Hans-Peter Hilligardt hat "volles Haus" beim Seniorennachmittag. "Und spätestens auf der Toilette treffen sich alle mal, quer durch die Generationen und Interessengruppen, und kommen ganz überraschend ins Gespräch", ist eine Erfahrung, die Renate Schimmel gemacht hat.

Deshalb ist sie auch überzeugt, dass das Mehrgenerationenhaus noch längst nicht am Ende seiner Kapazitäten ist: "Vielleicht gibt es hier bald auch ein Kunstfrühstück für Jung und Alt, ein Literatur- und Strickcafé oder einen Treff zum Kleidung flicken lernen." Energievorträge sind in Planung, während die Contra-Dance-Gruppe schon durch den großen Saal schwingt.

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"Hier kann man Menschen begegnen – auch unseren Pfarrerinnen und Pfarrern – und einfach mal so miteinander reden. Das, was früher im Dorf ganz normal war, pflegen wir hier", sagt Karin Haist über das Mehrgenerationenhaus. "Menschen bekommen hier einen ganz persönlichen Bezug zur Kirche", ergänzt Renate Schimmel. "Studien belegen übrigens, dass sie dann auch überzeugter Kirchensteuer bezahlen und eher nicht darüber nachdenken, aus der Kirche auszutreten." Was braucht es, um ein Haus zum Mehrgenerationenhaus zu machen? "Offene Räume, Menschen mit einem offenen Ohr – und eine wirklich preisgünstige Bewirtung", nennt Renate Schimmel spontan als erstes. Falls andere Gemeinden es den Öhringern nachmachen und ein ganzes Dorf in einem Haus unterbringen wollen.

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