Chorprobe von "Gospel im Osten"
Foto: Martin Haar
Für seine Probe weicht der Chor "Gospel im Osten" manchmal in die Friedenskirche aus, weil die größer ist als die Heilandskirche.
Stuttgart: immer mehr Ch(o)risten
Leere Kirchen, keine Lust auf Gottesdienst, immer weniger Taufen - wie soll es weiter gehen mit der Kirche? In unserer Serie "Jetzt erst recht! Gute Gemeinde-Ideen" stellen wir Gemeinden vor, die gegen den Trend wachsen. Die Heilandskirchengemeinde im Osten von Stuttgart hat das geschafft: mit Gospelmusik.

Menschen fürchten die Leere. Dieses konturlose Nichts. Anderseits: Wo nichts ist, ist Raum für alles, auch für einen Neustart. Oder für Möglichkeiten und Ideen. In so einer Situation stand Pfarrer Albrecht Hoch 1998 in der Stuttgarter Heilandskirchengemeinde. "Als ich kam, gab es keinen Kirchenchor mehr, die Kinderkirche existierte fast nur noch auf dem Papier und zum Gottesdienst kamen auch nicht mehr so viele Leute."

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Großstadtprobleme, wie sie fast jeder Pfarrer in Stuttgart kennt. Sie sind auch unter dem Stichwort "demographische Entwicklung" subsumiert: Die Stadtgesellschaft wird immer älter, Familien ziehen raus an die Ränder der Stadt. Dorthin, wo es noch bezahlbaren Wohnraum und Kita-Plätze gibt. Die Zahl der Single-Haushalte wächst dagegen und damit die Zahl der Menschen, die sich lieber auf irgendeine Art und Weise selbst verwirklichen wollen.

Aber Pfarrer Hoch traf es noch härter. Denn sein Vorgänger hat die "konservative Karte gespielt", wie er es nennt. Soll heißen: Das sture Bewahren von Traditionen ließ keinen Raum für Neues. Auch nicht für das neue Gesangbuch, der damalige Pfarrer lehnte es ab. Die Gemeindeglieder, in der Mehrzahl wertkonservative Aussiedler, und der Kirchengemeinderat wollten es so: Klassische Liturgie und schwere Lieder zu guter Orgelmusik. So traf Hochs Vorgänger im Stuttgarter Osten den Nerv der Alten. "Aber die anderen Leute haben sich hier nicht mehr wohlgefühlt", sagt Albrecht Hoch, "wenn du die erreichen willst, geht das gar nicht." Geschätzte 30 Gottesdienstbesucher hatten  sonntags in der Kirche Platz zum Liegen. Ein bekanntes Phänomen: Viele können mit dieser Form von Kirche nichts mehr anfangen und bleiben fern. Zumal am Sonntagmorgen, einer Zeit, in der der gestresste Stadtmensch nicht in seinem digitalen Hamsterrad strampeln muss. Albrecht Hoch wusste: Es muss sich etwas ändern. "Der normale Betrieb läuft in der Stadt nicht mehr."

In manchen Wochen bis zu zehn Taufgespräche

Das eine und einzige Patentrezept gegen die Kirchen-Müdigkeit hatte der Stuttgarter Pfarrer freilich nicht. Aber er fragte sich immer wieder: "Was hat eigentlich dich zur evangelischen Kirche geführt?" Seine Antwort: "Es war die Musik." Oft sind es eben die einfachen Dinge, die mächtig wirken. Zwar blieben Zweifel, aber was hatte Albrecht Hoch schon zu verlieren? Seinen Traum hat er nach und nach in die Tat umgesetzt: das Wort Gottes über die Musik in die Köpfe und Herzen der Menschen zu transportieren. In diesem Fall über die Gospelmusik. "Wir haben ganz bescheiden angefangen, mit etwa 25 Leuten", sagt Hoch, "aber wir träumten immer von etwas Großem."

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Heute ist der Traum Realität. Im neunten Jahr seit Hochs Gemeindereform singen 410 Stimmen zum Lobpreis des Herrn. Die entsprechenden Gottesdienste sind bestens besucht. Die Gemeinde wächst und wächst. Inzwischen gibt es zwei Kinderkirchen. In manchen Wochen führt Pfarrer Hoch bis zu zehn Taufgespräche. Familien sind wieder in den Stuttgarter Osten zurückgekehrt. Die Heilandskirchengemeinde trotzt dem Trend und gilt inzwischen als eine Mustergemeinde. 

Auch, weil sich Menschen aktiv einbringen können. Inzwischen ist der Gospelchor der Heilandskirchengemeinde weit über die Stadtgrenzen hinaus ein Begriff: "Gospel im Osten" hat zuletzt zahlreiche Chorwettbewerbe gewonnen. Unter anderem den Chormeisterwettbewerb 2013 von evangelisch.de (daraus kam die CD "La Buena Vida"). Sogar auf der Expo in Shanghai/China flimmerte ein Video mit Klängen von Gospel im Osten über die Leinwände. Diese Entwicklung trägt einen weiteren Namen: Thomas Dillenhöfer. Für Albrecht Hoch ist der Chorleiter "einer der besten in Deutschland" und ein Geschenk Gottes.

Chorproben werden zu Gottesdiensten

Ob es nun Glück, Zufall oder Gottes Fügung war, dass Dillenhöfer 2004 vor der Tür stand, kann Albrecht Hoch klar beantworten. Schließlich hat er um diese Unterstützung gebetet. "Wir brauchten einen Profi, der uns auf unserem Weg weiterbringt", sagt der Pfarrer und stellt klar: "Die Musik und der Gesang sollte von Anfang an als existenzieller Teil der Gemeinde zu sehen sein. Gemeinde und Chor sollten verschmelzen." Im Stammland des Pietismus klingt so ein Satz wie Sprengstoff. Schließlich soll das Wort und nicht die Musik im Mittelpunkt eines ordentlichen Gottesdienstes stehen. Aber Chorleiter Dillenhöfer setzt das um, was auch sein Christsein stark beeinflusst: Worte und Noten. Sie sollen den Glauben stärken. "Wir singen von den Grundwahrheiten des Evangeliums. Gnade, Barmherzigkeit, Gottes Liebe und Zusagen."

Chorleiter Thomas Dillenhöfer und Pfarrer Albrecht Hoch

In den Gospelliedern soll diese Botschaft Menschen direkt erreichen. Sie soll durch Mark und Bein gehen, emotional sein. "Wir machen das, was das Herz berührt. Durch eine Art ganzheitliche Musik, die nicht so verkopft ist", wie es Chorleiter Dillenhöfer auf den Punkt bringt. Pfarrer Hoch, der von seinem Chorchef als ein "totaler Ermöglicher" bezeichnet wird, ergänzt: "Wo rationale Worte einen nur schwer erreichen, sollen Inhalte in den Liedern transportiert werden. Gospel ist nicht kompliziert. Es ist so zu singen, dass es mit Herz und Seele rüberkommt." So wird fast jede Chorprobe auch zu einem Gottesdienst. "Ich bin oft vor und nach den Proben da", sagt Seelsorger Hoch, "da habe ich viele gute Gespräche."

Damit locken Dillenhöfer und Hoch inzwischen auch viele Christen aus anderen Gemeinden an. Teilweise nehmen sie sogar weite Wege auf sich. So wie eine kleine Gruppe aus Walddorfhäslach bei Tübingen, das etwa 40 Kilometer entfernt von Stuttgart liegt. Weil ihre Gemeinde so etwas nicht bietet und "weil es einfach einen Riesenspaß macht, kommen wir sehr gerne hier her", sagt Dagmar Böpple stellvertretend für die acht aus Walddorfhäslach.

Stefanie Müller hat es da einfacher. Sie ist von einer methodistischen Gemeinde zur Heilandskirchengemeinde gewechselt, singt seit drei Jahren im Gospelchor und genießt es, "wenn die Kirche voller Musik ist". Ihr Credo lautet: "So macht Kirche Spaß!" In dieser Form seien die Gottesdienste und der Gesang im Chor "anregend und bereichernd". Damit meint Stefanie Müller aber auch den Umgang untereinander: "Hier sind alle sehr offen." Keiner werde gefragt, wie glaubst du? Und wo in der Kirche stehst du? "Genau so muss Kirche heutzutage sein. Sie muss offen sein und offen bleiben." Für Stefanie Müller ist daher der Heilandsspruch (Matthäus, 11,28), der über dem alten Kirchenportal der Heilandskirche in Stein gemeißelt ist, "so etwas wie ein Synonym für das Ganze" in dieser Gemeinde. Er nährt die Seele und lädt Menschen ein: "Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken."

Fragt sich nur, wie lange dieser Aufruf noch gelten kann. Denn die Popularität und Attraktivität des Gospel-Chores scheint grenzenlos. Es werden immer mehr Ch(o)risten. Wo man vor Jahren noch die Leere fürchtete, herrscht heute drangvolle Enge. Das Gotteshaus bietet in dieser Hinsicht kaum noch Raum für Möglichkeiten. Aber im Vergleich zu anderen Stuttgarter Gemeinden ist das wohl eher ein Luxusproblem. 

Der Chor "Gospel im Osten" hat den Chormeister-Wettbewerb 2013 von evangelisch.de gewonnen. Der Preis war eine CD-Produktion, heraus kam "La Buena Vida".

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