Frau Probst, Sie engagieren sich sehr intensiv öffentlich für weniger Barrieren beim Zugang zu Medienangeboten (unter anderem auch in einer Diskussionsrunde beim Medientreffpunkt Mitteldeutschland). Treten Sie eigentlich gern in der Öffentlichkeit auf?
###mehr-personen###
Julia Probst: Ich bin immer erstaunt darüber, wenn man mir bescheinigt, dass ich bei meinen Auftritten ganz cool rüberkomme, denn ich brenne wirklich sehr für mein Anliegen. Das hilft mir auch sehr, meine Schüchternheit zu überwinden und auf die fehlende Barrierefreiheit für Gehörlose und Schwerhörigen in der Öffentlichkeit hinzuweisen. Und unter dem Tisch sind meine Knie trotz allem Wackelpudding, aber muss ich dann halt durch!
Wie haben Sie zu Ihrer heutigen Selbstsicherheit gefunden? Können andere mit einer vergleichbaren Beeinträchtigung vielleicht von Ihren Erfahrungen lernen?
Probst: Ich glaube, das hat sich mit der Zeit so ergeben. Denn wenn man sich bei einem Thema ganz sicher ist, dann fühlt man sich auch sicher. Und so kommt es auch rüber. Ich weiß nicht, ob andere von mir lernen können, aber eins weiß ich: Jeder sollte mit der Art der Kommunikation auftreten dürfen, die ihm liegt. Also in meinem Fall ist es natürlich so, dass ich in der Öffentlichkeit lieber rede, also deutlich weniger in Gebärdensprache spreche, weil ich mich ja in der Lautsprache zuhause fühle.
Diese Fähigkeit macht offenbar ein Stück Ihrer Identität aus. Wie haben Sie das geschafft, sich in der Lautsprache zuhause zu fühlen?
Probst: Ich bin die einzige Gehörlose in meiner Familie. Ich kam ganz normal zur Lautsprache als Muttersprache, denn ich war schon als Kleinkind kommunikativ und wollte sprechen. Meine früheste Kindheitserinnerung an "Sprachunterricht" ist vor dem Kommodenspiegel auf dem Flur im Haus meiner Großeltern. Man hob mich darauf und sprach mir einige Wörter vor. Ich habe versucht, sie nachzusprechen, als ich mit dem Sprechen losgelegt habe. "Ball" war mein erstes Wort. Und am Anfang war "M" und "P" für mich schwer auseinanderzuhalten, weil die beiden Wörter vom Mundbild her gleich aussehen. Aber irgendwann hat es bei mir Klick gemacht, da ich merkte, dass "M" viel weicher auszusprechen war.
"Ich habe zwei Kulturen, zu denen ich gehöre"
Sie haben also in unterschiedliche Wahrnehmungswelten hineingefunden, die Sie aber nicht als gleichwertig empfinden?
Probst: Ich würde das nicht in unterschiedliche Wahrnehmungswelten nennen. Ich bin in der hörenden Welt aufgewachsen. Ich ging mit meinen hörenden Freunden zur Regelschule. Das Bewusstsein, dass ich nicht hören kann, kam bei mir erst sehr viel später, als ich nach der Grundschule auf die Schwerhörigenschule gehen musste und es am Anfang dort total gehasst und dort langsam realisiert habe, dass die anderen auch Hörgeräte tragen wie ich. Was habe ich zunächst meine alte Klasse vermisst! Die Umstellung war wirklich hart für mich am Anfang. Aber bis heute habe ich noch Kontakt mit Leuten aus der Grundschule.
###mehr-artikel###
Ihre Wurzeln liegen also in der Welt der Laute und Geräusche?
Probst: Das Aufwachsen in meiner Großfamilie hat mich zu einer Gehörlosen gemacht, die biologisch gesehen gehörlos ist, aber sich von der kulturellen Identität hörend fühlt und trotzdem die Schönheit der Gebärdensprache liebt und auch sehr gerne in der Gehörlosenwelt ist, aber dennoch als Heimat die hörende Welt hat. Übrigens: Taubblinde in Deutschland leben bisher in Isolationshaft. Die Bundesregierung weigert sich bis heute, diese Benachteiligung als eigenständige Behinderung anzuerkennen. Dadurch bleiben ihnen wichtige Hilfen und die Teilhabe an der Gesellschaft versagt. Dabei haben es gerade diese Menschen sehr schwer, weil ihnen mehr oder weniger gleich zwei Sinne fehlen.
Wie empfinden Sie die Gehörlosenkultur und die Gebärdensprache, die Sie als Persönlichkeit ja auch ausmachen?
Probst: Ich habe einfach zwei Kulturen, zu denen ich gehöre. In dieser anderen, sehr reichen Kultur bin ich auch sehr gern zu Besuch. Wir haben Gebärdensprachtheater, Gebärdensprachfilme, Gebärdensprachpoesie, Gehörlosensport, ja sogar eigene olympische Spiele. Der Zugang hierzu und das Bewusstsein, dass Gehörlose eine eigene Kultur haben, fehlen leider der hörenden Welt. Das liegt auch daran, dass Gehörlose jahrelang unterdrückt worden sind. Die Gebärdensprache war jahrhundertelang verboten. Gehörlosen Kindern hat man in der Schule auf die Finger gehauen, wenn sie versucht haben, Gebärdensprache zu sprechen. Es ist ein sehr dunkles Kapitel in der Geschichte der Gehörlosen. Noch heute ist die Gebärdensprache lange nicht so anerkannt, wie sie es sein sollte. Erst 2010 sind auf der Internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser Beschlüsse von 1880 aufgehoben worden, durch die die Gebärdensprache als Unterrichtsprache verboten worden war. Dies war zugleich ein Berufsverbot für die damaligen Lehrer von Gehörlosen, die selbst gehörlos waren und in Gebärdensprache unterrichteten.
"Man kann nichts vermissen, womit man nicht aufgewachsen ist"
Für viele Menschen sind bestimmte Kompositionen, etwa das Schlussterzett aus dem "Rosenkavalier" oder Bachs h-Moll-Messe, elementare Hörerlebnisse. Empfinden Sie den Umstand, Klassik, Pop oder Rap nicht erleben zu können, als Verlust?
Probst: Ich habe zwar mit zwölf Jahren ein Cochlea-Implantat bekommen und kann ganz gut nachvollziehen, wie wichtig Musik und Umgebungssound für Hörende sind. Die Lieblingsfrage aller Hörenden an mich ist wirklich immer: "Aber was ist mit der Musik? Vermisst du sie nicht?" Von meinen Hörerlebnissen kann ich sagen: Vogelgezwitscher hört sich wirklich schön an. Als ich es zum ersten Mal gehört habe, war ich ganz hin und weg. Aber es hat auch Vorteile, gehörlos zu sein, zum Beispiel dann, wenn die Vögel direkt am Fenster ein Nest haben und mitten in der Nacht eine Party feiern. Und was den Aspekt des "Vermissens" angeht: Man kann nichts vermissen, womit man nicht aufgewachsen ist. Ich vermisse die Musik nicht, aber wenn ich Lust auf sie habe, gehe ich auf ein Konzert, zum Beispiel zu Robbie Williams. Es ist halt so, dass Musik für mich eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Die meisten Menschen haben etwa ihr "Lied, bei dem sie sich kennengelernt haben". Bei mir ist es eher visuell abgespeichert. Ich würde hier sagen, dass ich dazu meinen eigenen Videoclip habe. Bloß ohne Ton. Aber ich kenne andere Gehörlose, die sind richtig gute Tänzer und können sich ein Leben ohne Musik nicht vorstellen.
Was wäre denn noch oder überhaupt im Verständnis der Hörenden zu korrigieren?
Die Gesellschaft muss von dieser Art zu denken wegkommen, dass nur der eine hohe Lebensqualität besitzt, der alle fünf Sinne hat oder laufen kann. Warum glaubt sie mehrheitlich, dass man Behinderungen "reparieren", heilen muss? Warum sollte jemand kein erfülltes Leben haben mit einer Behinderung? Nicht die Behinderung ist das Problem, sondern die Barrieren und die fehlende Inklusion sind es. Das hängt sehr mit dem vorherrschenden Bild von Behinderung in Deutschland zusammen, dem medizinischen Modell. Danach ist die Behinderung das Problem und muss beseitigt werden.
Wo werden denn Alternativen gelebt?
Andere Länder wie zum Beispiel Großbritannien leben nach dem sozialen Modell der Behinderung. Dort steht der Mensch im Mittelpunkt. Die Barrieren in der Umwelt werden dort als das Problem gesehen. Und das ist meines Erachtens auch das humanere Menschenbild. Und ein ökonomischeres. Denn von einer barrierefreien Gesellschaft profitieren alle, nicht nur Menschen mit Behinderung. Denken Sie nur an eine Rampe für Rollstuhlfahrer. Sie kann von Eltern mit Kinderwagen und Radfahrern benutzt werden. Genauso ist es mit Untertiteln im Fernsehen. Sie können Menschen mit Migrationshintergrund nutzen, um Deutsch zu lernen. Ein weiterer wichtiger Punkt: Großbritannien und Amerika haben verpflichtende Richtlinien in Sachen Barrierefreiheit in ihren Gesetzen. Wenn diese verletzt werden, gibt es scharfe Sanktionen. Das fehlt bei uns leider.