Diakoniepräsident Ulrich Lilie
Foto: epd-bild/Rolf Zöllner
Diakoniepräsident Ulrich Lilie vor der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin
Es gibt noch Raum in der Herberge
Diakoniepräsident Ulrich Lilie über die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland
Seit dem 1. Juli leitet Ulrich Lilie die bundesweite Diakonie. Im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst spricht er über Armut in Deutschland, Migration aus Südosteuropa und die Aufnahme von Menschen aus Kriegsgebieten.
01.09.2014
epd
Thomas Schiller

Nach einer aktuellen Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft konzentriert sich das Armutsproblem auf die Ballungsräume. Es sei kein Ost-West-Problem mehr, sondern eines zwischen Land und Stadt. Spiegelt das die Erfahrungen der Diakonie wieder?

Ulrich Lilie: Das ist so. In allen deutschen Großstädten haben wir das Problem, dass in bestimmten Bezirken arme Menschen nicht mehr vorkommen. Sie können es sich schlicht nicht mehr leisten, da zu leben. Die Durchmischung von Milieus hat abgenommen. Viele Städte haben die Herausforderung angenommen, etwa durch Mietpreisbegrenzung oder Quartiers- und Stadtentwicklungskonzeptionen. Wir brauchen eine soziale Mischung, weil wir sonst sozialen Sprengstoff schaffen und eine Verslumung in den Großstädten. Zu den Armen kommen dann noch die Menschen mit Migrationshintergrund, dort wachsen Konflikte und Extremismus.

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Wie können darauf Kirche und Diakonie antworten?

Lilie: Kirchengemeinden und Diakonie können im Zusammenspiel zeigen, dass eine Gesellschaft nur zukunftsfähig ist, wenn sie Menschen aus unterschiedlichen sozialen und kulturellen Gruppen integrieren kann. Hinter dem schönen Satz "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst" steckt eine kulturelle Einsicht. Dafür haben wir Kompetenz und geeignete Orte - und wenn es gut geht, auch eine Kultur. Das zeigt sich besonders bei der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, klassisches Terrain im Zusammenspiel von Kirche und Diakonie. So hat die Diakonie ihr Jahresthema auch der Inklusion gewidmet.

Viele Großstädte sind mit den sozialen Kosten für Armutsmigration überfordert. Die Bundesminister Thomas de Maizière und Andrea Nahles haben am Mittwoch ihren Abschlussbericht zur Armutsmigration vorgestellt. Sie wollen Regelungen verschärfen. Wer nach sechs Monaten keinen Job gefunden hat, soll ausgewiesen werden können. Und wer illegal eingereist ist, soll mit einer Wiedereinreisesperre bis zu fünf Jahren belegt werden. Ist das angemessen?

Lilie: Das einzig Gute daran ist, dass die Kommunen gestärkt werden sollen. Alles andere löst die Probleme nicht und geht auch an der Realität vorbei. Wenn man sich bei den Arbeitsmigranten aus Rumänien und Bulgarien die Zahlen ansieht, ist eine Verschärfung in keiner Weise gerechtfertigt. Wir befürchten, dass eine Verschärfung nur das Konfliktpotenzial steigert. Die Leute kommen ja.

"Wenn wir in Europa das Heimatland der Menschenrechte sein wollen, müssen wir mehr tun"

Die Kirchen fordern eine stärkere Aufnahme von Menschen, die vor den Kriegen etwa in Syrien, im Irak oder in der Ukraine flüchten. Doch die Menschen müssen auch untergebracht werden. Was können die Kirchen tun?

Lilie: Es gibt schon viele Kirchengemeinden, die helfen - oft spontan durch Sammlung von Kleidung und Spielzeug, durch Angebote für Kinder. Es bedarf aber einer systematischen Antwort. Die Überschrift heißt: Wir müssen mehr aufnehmen. Wenn man in den Ländern rund um Syrien die Zahl der Flüchtlinge und der Einheimischen ins Verhältnis setzt, leben wir auf einem anderen Stern. Natürlich tut Deutschland schon viel, auch im Vergleich zu Nachbarländern. Wir müssen auf der europäischen Ebene für Veränderungen sorgen und zu gemeinsamen Standards kommen. Es kann nicht sein, dass ein Land wie Griechenland da aus der Verantwortung herausfällt, indem ein Gericht bescheinigt, dass man dort keine Flüchtlinge hinschicken kann. Wenn wir in Europa das Heimatland der Menschenrechte sein wollen, müssen wir mehr tun. Wir müssen zu höheren Aufnahmezahlen in allen Ländern kommen.

Profit ist vielen Vermietern wichtiger

Das ist ein langer Weg durch die EU-Politik. Im Moment überschlagen sich aber die Ereignisse?

Lilie: Wir brauchen jetzt pragmatisch eine Ausstattung der Kommunen. Die können nicht allein ihrer Verantwortung gerecht werden, sondern brauchen dazu die Unterstützung des Bundes. Wir haben in der Jugoslawien-Krise damals wesentlich mehr Menschen sicheren Schutz geboten.

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Die Städte sind am Limit - in Duisburg gab es den inzwischen verworfenen Vorstoß, Flüchtlinge in Zelten unterzubringen. Kann man die bisherigen Standards in der akuten Situation aufrecht halten, wo möglichst viele Flüchtlinge aufgenommen werden sollen?

Lilie: In vielen Städten vermieten kommunale Wohnungsbaugesellschaften lieber zu höheren Preisen auf dem Markt als Wohnraum für Flüchtlinge bereitzustellen. Die alte Lüge aus der Weihnachtsgeschichte, dass es keinen Raum in der Herberge gäbe, wird bis heute aufrechterhalten. Wir haben ausreichend Wohnraum für Flüchtlinge. In einigen Kommunen kann sich die Lage zuspitzen - aber dann muss man über Verteilung und Entlastung reden. Das erfordert aber eine politische Bereitschaft. Die Glaubwürdigkeit unseres Menschenrechtsanspruchs, den wir gern in die Welt hinausposaunen, misst sich daran, wie wir mit Flüchtlingen umgehen. Das ganze muss verzahnt werden mit einer langfristigen Politik zur Entwicklung der Herkunftsländer. Wer flüchtet, dem geht es ums Überleben.