"Manchmal habe ich Angst, dass es bei uns so werden könnte wie bei Euch – zu einfach", sagt Pastor Wang, ein Mittvierziger aus Südwestchina mit Blick auf Christen in Deutschland. "Dann werden auch bei uns die Kirchen leer sein."
Zu einfach, das meint: ein Christentum, das seinen Anhängern zu wenig abverlangt, das sich nicht mehr durch seine puritanische Ethik und moralisierende Weltsicht von einer Gesellschaft abhebt, in der scheinbar alles geht: Korruption und Mätressen, ländliche Vertreibung und Lebensmittelskandale, immer neue Varianten des Reichwerdens auf Kosten anderer. Tatsächlich sind unbändiger Konsum und unmäßige Gier nur ein Teil der chinesischen Realität, aber ein Teil, der immer mehr Menschen nach Alternativen suchen läßt, zum Beispiel in der Religion. Zurzeit sind sie voll, die Tempel und Kirchen in China. Vor allem das protestantische Christentum ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen, so dass inzwischen selbst die staatliche Religionsbehörde SARA von bis zu 40 Millionen Protestanten spricht; die Zahl der Katholiken wird auf 12 Millionen geschätzt. Zunächst waren es ältere Frauen vom Land, die über das Christentum Gemeinschaft, seelisches Heil und körperliche Heilung suchten. Inzwischen strömen in den Städten vor allem junge Akademiker in die Gemeinden. Sie suchen Halt und Orientierung, und so stößt in den letzten Jahren die strenge Disziplin des Calvinismus bei einer intellektuellen Elite auf besonderes Interesse: Hohe moralische Anforderungen an die persönliche Lebensführung und eine strenge Art des Gemeindemanagements werden der vermeintlichen Sittenlosigkeit der Umgebung entgegengesetzt.
Warum wurden genehmigte Kirchen abgerissen?
Zu einfach, das meint vielleicht auch ein politisches und soziales Umfeld, in dem Christen sich nicht mehr beweisen müssen, weil sie selbstverständlich dazugehören. In der Tat können Protestanten in Chinas staatlich anerkannten Drei-Selbst-Gemeinden ihrem Glauben weitgehend unbehelligt nachgehen: "Drei Selbst" steht für christliche Autonomie, für eigenständige Verkündigung, Verwaltung und Finanzierung. Doch das Stigma der "Fremdreligion", die von ausländischen Kolonisatoren ins Land gebracht wurde, lässt sich nur langsam abschütteln. Nach wie vor wird das Christentum vom Staat als heikel und gefährlich empfunden. Die Ablehnung speist sich auch aus der Angst vor religiös bedingten Aufständen, die in China tief in der Geschichte verwurzelt ist. Von 1851-1864 stürzte die unter anderem christlich inspirierte Taiping-Rebellion China in einen Bürgerkrieg, der nur mit Hilfe ebenjener imperialistischen Mächte niedergeschlagen werden konnte, die das Christentum mit ins Land gebracht hatten. Der Anspruch, Religionen zu kontrollieren, ist daher keine sozialistische Neuerung, sondern war bereits zu kaiserlichen Zeiten Teil der chinesischen Religionspolitik. Heute ist man sich in chinesischen Regierungskreisen durchaus der Rolle der ostdeutschen Gemeinden beim Fall des Eisernen Vorhangs bewußt. In der Kirche aber fürchtet man vor allem, was danach kam: die gähnende Leere in ostdeutschen Kirchenbänken.
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Ähnlich wie Pastor Wang sehen einer jüngsten, informellen Umfrage von Brent Fulton (China Source Blog) zufolge die meisten chinesischen Kirchenleitenden die größten Gefahren für die Kirche im wachsenden Individualismus und im grassierenden Materialismus. An Politik denken nur wenige, wenn sie über Gefahren für das Christentum im eigenen Land sprechen, trotz der Vorfälle im vergangenen Frühjahr in der Provinz Zhejiang. Dort kam es zu Abrissen von Kreuzen, Kirchenanbauten und ganzen Kirchen, auch von staatlich registrierten Gemeinden, was nicht den bisherigen Erfahrungen in China entspricht. Mit ungewöhnlich deutlicher Kritik reagierten daher Vertreter des Chinesischen Christenrats auf die Vorgänge. Offiziell diente die Kampagne der Beseitigung illegaler Bauten; diese waren jedoch zum größten Teil vorher geduldet, wenn nicht sogar genehmigt worden. Nicht zuletzt die restriktive Religionspolitik hatte das Bauen sogenannter "Mega-Kirchen" aus Sicht der Gemeinden notwendig gemacht, galt es doch in ihren Augen, die mühsam ergatterte Genehmigung für den Bau einer Kirche auszunutzen – oder vielleicht auch etwas großzügiger auszulegen als eigentlich genehmigt. In Wenzhou, dem "chinesischen Jerusalem" mit zehn bis fünfzehn Prozent Christen, dominieren daher stellenweise Kirchen von Kathedralengröße das Stadtbild.
Anstrengend für Freunde, Eltern und Kollegen
Wie immer bei derartigen Vorfällen dringt nur ein Teil der Wahrheit nach außen, "denn", so der Politikwissenschaftler Carsten T. Vala von der Loyola University Maryland, "die Beteiligten vor Ort müssen noch miteinander auskommen, lange nachdem die ausländischen Medien wieder abgezogen sind". Es scheint sich abzuzeichnen, dass die Kampagne staatlich angeordneter Abrisse sich vor allem gegen das Erscheinungsbild des Christentums richtet. Liu Peng, Leiter des Pushi Institute, das sich mit dem Verhältnis zwischen dem Staat und Religionsgemeinschaften auseinandersetzt, erklärt: "In den fünfziger Jahren wurden Menschen verfolgt, dieses Mal sind es nur Gebäude, während Menschen verschont bleiben." Welche Auswirkungen die Vorgänge in Zhejiang auf den Protestantismus in China insgesamt haben, bleibt abzuwarten.
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Zu einfach, diese Worte haben in den Ohren liberaler westlicher Theologen noch einen anderen Beiklang. Für sie ist vieles am Protestantismus in China derzeit zu einfach: die wortgetreue Auslegung der Bibel, die theologisch fundamentalistischen Antworten, die schwarz-weißen Moralvorstellungen. Es sind gerade die Dinge, aus denen Chinas Christen schöpfen: Kraft gegen Korruption und unlautere Geschäftspraktiken im eigenen Handeln, Kraft auch für die eigene Vorbildfunktion und die Verkündigung durch Tat und Wort. Zwar sind chinesische Christen weitgehend unpolitisch, doch ihren Glauben tragen sie mit missionarischem Eifer weiter. Es ist eine Haltung, die anstrengend werden kann für die Betroffenen, aber auch für Schwiegermütter und Freunde, Ehemänner und Kollegen. Nein, einfach machen es sich Chinas Christen nicht.