Weidenkirche in Berlin
Foto: epd-bild/Rolf Zöllner
Kreative Ideen gesucht: In Berlin entsteht eine Kirche aus Weidenruten.
Die Kirche braucht mehr Kreativität
Über Religion reden die Menschen in Deutschland selten öffentlich, sondern entweder ganz intim oder in der Kirche. Immerhin: Diesen Raum gibt es noch, und wir sollten ihn besser nutzen, findet Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD. Mit seinem neuen Buch möchte er diejenigen ermutigen, die die Kirche lebendig machen - offen, kreativ und mit neuen Ideen.

Es ist so eine Sache heute mit der Religion. Während sie in den weitaus meisten Teilen der Welt richtig brummt, ist sie in Mitteleuropa und insbesondere in Deutschland offensichtlich auf dem Rückzug. Zwar hat es auch hier in den letzten Jahren wieder ein verstärktes Interesse an ihr gegeben, aber das hing weitgehend mit dem Erstarken unangenehmer, ja terroristischer religiöser Formen zusammen. Im öffentlichen Raum werden religiöse Argumente mehr denn je gemieden – selbst Theologen vermeiden z.B. in der Debatte über Sterbehilfe entsprechende Bezüge und geben sich rein rational-säkular.

Dabei ist Religion eine höchst spannende Angelegenheit, weil es um existentielle Dimensionen unseres Lebens geht. Deswegen sind Menschen eigentlich religiös höchst kreativ. Das hat prägnant der Münchner Soziologe Armin Nassehi in seinen Studien für den Bertelsmann Religionsmonitor herausgearbeitet. Er führte eine Reihe von Gesprächen über Religion mit allen möglichen Menschen und alle – ob gläubig oder nicht – entwickelten schnell ein reges Interesse an den Themen und erwiesen sich als hoch kompetent.

Nassehi stellt allerdings auch fest: Damit sich religiöses Interesse überhaupt entwickeln kann, braucht es Anlässe und entsprechende "Räume". So etwas geschehe nicht einfach mal so und wird anscheinend auch selten von den Menschen selbst in Gang gesetzt. Diese Erfahrung kann man ja in der Tat überall machen: Auf der Arbeit, während der Freizeit, oder eben in der Politik werden solche Themen ausgeklammert. Privat könne ja jeder glauben, was er will – öffentlich ist das eher peinlich. Selbst von Pastoren hört man, dass sie im Urlaub besser nicht auf ihre religiöse Rolle angesprochen werden wollen. Das stresse zu sehr.

Für ihre Vitalität ist die Kirche selbst verantwortlich

Dieser Rückzug des Religiösen aus den öffentlichen Räumen spiegelt sich auch in den Ergebnissen der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD. In ihr wurden Kirchenmitglieder und Konfessionslose gefragt, wie oft sie mit wem über Religion kommuniziert hätten. Das Ergebnis war enttäuschend. Zum einen passiert dies selbst unter Kirchenmitgliedern nicht allzu oft, unter Konfessionslosen ohnehin nicht. Und zum anderen geschieht es, wenn es denn geschieht, nur in kleinsten, intimen, Kontakten mit einer oder zwei Personen – also nicht öffentlich. Lediglich im Raum der Kirche (und im Religionsunterricht an den Schulen) sieht es anders aus: Dort finden sich durchaus Menschen zu öffentlicher religiöser Kommunikation zusammen. Hier gibt es also jene Anlässe, die es braucht, damit Religion wirklich lebendig wird.

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Anscheinend, so kann man folglich gut spekulieren, hat sich die Religion sozusagen aus "der Gesellschaft" in die Kirche zurückgezogen – dorthin, wo man sie ja auch völlig zu Recht erwarten kann. Es gibt sie weiterhin privat überall, aber verlässlich öffentlich nur noch in der Kirche und in dem von der Kirche verantworteten schulischen Bereich. Wer sich selbst als religiös versteht, der findet sich deswegen auch in der Kirche wieder. Und die Kirche – das zeigt die Kirchenmitgliedschaftsstudie ebenfalls auf – deckt den entsprechenden Bedarf auch recht zuverlässig ab. Da dieser Bedarf aber in der Gesellschaft schrumpft, schwächelt die Kirche. Religion selbst verliert auf diese Weise an öffentlichem sozialem Rückhalt. Wer sich religiös äußert, erhält darauf wenig Resonanz im öffentlichen Raum. Paradox gesagt: An Gott zu glauben ist plausibel für diejenigen, die an Gott glauben. Für die anderen aber immer weniger. Sozialwissenschaftlich gesagt: Religiöse Kommunikation schließt sich sozial in Gestalt der Kirche sozusagen ein.

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Die Folge ist, dass die Kirche mehr denn je für die Vitalität von Religion selbst verantwortlich wird. Sie kann nicht mehr darauf vertrauen, dass sich religiöses Interesse schon "irgendwie" bildet und sich dann in Bindung an die Kirche niederschlägt. Schon gar nicht lassen sich in der Gesellschaft religiöse Innovationen feststellen, die an der Kirche vorübergehen, weil sie, weil zu verklemmt nicht "religionsfähig" sei. Ihre existentiellen Bedürfnisse befriedigen die Menschen immer besser säkular: mit Konsum und Event. Das mag zwar bisweilen noch an Religion erinnern – von ihnen selbst wird es aber nicht mehr so gedeutet.

Wer an den Auftrag glaubt, soll die Stimme erheben

Wie kann unter diesen Bedingungen Kirchenbindung stabilisiert oder gar neu geschaffen werden? Vor allem dadurch, dass sich in der Kirche eine neue Offenheit und neuer Mut für religiöse Produktivität breit macht. Sie ist gesellschaftlich nicht selten durchaus sperrig und fordert gegenwärtige Lebenskonzepte heraus. So ist es z.B. völlig richtig, wenn die Kirche heute alle Familienformen anerkennt und nicht nur die klassische "bürgerliche" Ehe. Spannend wird es aber erst, wenn nun auch für moderne Familienformen Möglichkeiten einer überzeugenden religiösen Erziehung entwickelt werden. Denn die Weitergabe des Glaubens hängt von den Familien ab – und dort sinkt das Interesse. Beispiele für religiöse Kreativität gibt es auch heute, man denke z.B. an den enormen Erfolg der Gospelbewegung. Oder aber auch an die nicht geringe Zahl "erfolgreicher" Kirchengemeinden, deren Geheimnis nicht selten charismatische Persönlichkeiten sind, also Menschen, die von einer Sache wirklich "ergriffen" sind.

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Sozialwissenschaftliche Studien von Albert O. Hirschmann können zeigen, dass es in Organisationen, die an Zuspruch und Anerkennung verlieren, drei Verhaltensoptionen gibt: die des "Exits" – des Kirchenausstritts; die der "Loyalität" – der vielen Mitglieder, die treu dabei bleiben; und schließlich die des "Voice" – derjenigen, die ihre Stimme erheben, auf Missstände in der Kirche hinweisen und so das Ruder rumreißen wollen, weil sie nach wie vor an ihren Auftrag glauben. Diese Letzteren sind die wirklich Wertvollen. Zu ihrer Stärkung ist das Buch geschrieben.