Das Telefon steht nicht still bei Emanuel Youkhana. Der Erzdiakon der Assyrischen Kirche des Ostens ist im Augenblick auch nur selten in seiner Wiesbadener Wohnung anzutreffen. Seit zwanzig Jahren lebt Youkhana mit seiner Familie in Deutschland. Nach dem ersten Golfkrieg geriet er durch die Zusammenarbeit mit westlichen Medien auf Saddam Husseins "schwarze Liste", wurde bedroht und musste emigrieren.
Seitdem arbeitet er unermüdlich von außen für die Christen im Irak. "Ich habe mich entschlossen, ihre Stimme zu sein", sagt Youkhana. Diese Stimme ist im Augenblick wichtiger denn je, und der Pfarrer zögert auch nicht, sie zu erheben. Er bittet angesichts der humanitären Katastrophe, die sich in diesen Tagen durch das Wirken der Terrororganisation IS im Nordirak ereignet, nicht nur alle Christen, sondern auch die Regierungen der Welt um Hilfe. Allein könne der Irak die Situation nicht mehr lösen, ist Youkhana überzeugt.
Die Ereignisse überschlagen sich in den vergangenen Wochen rund um die Stadt Mosul, das alte biblische Ninive. Nach 1600 Jahren christlichen Lebens in dieser Stadt ist dieses nun zum Erliegen gekommen. Keine Glocken läuten mehr, christliche Heiligtümer und Gebäude werden regelrecht geschleift. Kreuze wurden heruntergerissen, das Grab des Propheten Jona, dessen Geschichte sowohl für das Christentum wie auch für Islam und Judentum eine wichtige Rolle spielt, gesprengt.
Keine Unterkünfte, kein Wasser – es mangelt an allem
Die letzten Christen haben Mosul im Juli verlassen. Sie wurden von den Terrorkämpfern vor die Wahl gestellt, zwangsweise zum Islam zu konvertieren, hohe Schutzgeldsummen zu zahlen, das neue "Kalifat" sofort zu verlassen – oder durch das Schwert zu sterben. Die Christen aus Mosul und anderen bedrohten Dörfern im Nordirak haben sich also ins Ungewisse aufgemacht. Ihre verlassenen Häuser wurden von den IS-Kämpfern mit dem Buchstaben N gekennzeichnet. Er steht für "Nusrani", den Ausdruck, den der Koran für Christen, "Nazarener", gebraucht.
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Mittlerweile sind Zehntausende im Nordirak auf der Flucht, berichtet Emanuel Youkhana. Sie suchen Zuflucht in den von der kurdischen Peshmerga kontrollierten Gebieten im nordirakischen Gebirge. Und es sind nicht nur Christen, die hier verfolgt werden: Auch die Jesiden, Angehörige einer kurdischen Minderheit, beklagen zahlreiche Todesopfer. Die Umstände, unter denen die in aller Hast Geflohenen nun ausharren müssen, seien äußerst kritisch. Keine Unterkünfte, kein Wasser, es mangelt praktisch an allem, sagt der Pfarrer und untermauert das mit Fotos aus dem Krisengebiet: Familien mit kleinen Kindern sitzen zwischen vollgepackten Autos unter Brücken, oft direkt auf dem nackten Betonboden. Zeltlager werden erst noch errichtet, die riesige Flüchtlingswelle kam zu plötzlich, um vorbereitet zu sein. "Das erste Mal überhaupt, dass Christen im Irak unter Zelten leben müssen", sagt Emanuel Youkhana, und es klingt bitter. "Ein humanitäres Desaster ereignet sich hier."
"Es geht darum, vor Ort zu helfen"
Youkhana erbittet dringend Hilfe der internationalen Gemeinschaft, bevor die Zustände aus medizinischen und hygienischen Gründen weitere Opfer fordern. Die Bitte wird erhört: Frankreich forderte am 6. August eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates. US-Präsident Obama schickt Flugzeuge mit Hilfsgütern für die Flüchtlinge im Sindschar-Gebirge.
###mehr-links### Auch Luftangriffe auf IS-Stellungen wurden am Wochenende geflogen. "Wir trauen Präsident Al-Maliki oder irgendeinem Nachfolger nicht mehr zu, diese Krise selbst zu lösen", sagt Youkhana. "Worte wirken hier nicht mehr. Wir brauchen nun Taten." Es sei die moralische Pflicht der westlichen Regierungen, zu helfen – zum einen in humanitärer Hinsicht, aber auch politisch und als ultima ratio militärisch. "Die deutschen kirchlichen Hilfsorganisationen sind alle dort bereits aktiv. Doch ihre Mittel sind begrenzt. Die Regierung in Berlin müsste nun dem guten Beispiel der Kirchen folgen."
Youkhana, der nicht müde wird, die Geschichte der verfolgten Christen im Irak auf allen nur erdenklichen medialen Kanälen zu erzählen, berichtet weiter von seinen Kontakten: "Als die Menschen hörten, dass Präsident Obama sich für aktive Hilfe ausspricht, haben sie gefeiert. Sie fühlten sich von der Welt alleine gelassen, bislang gab es lediglich Solidaritätserklärungen."
Mehr Flüchtlinge aufzunehmen, wie manche fordern, ist für Youkhana indes keine dauerhafte Option. "Sie können natürlich 100 Familien aufnehmen und ihnen wirkungsvoll helfen. Doch es geht darum, vor Ort zu helfen. Stellen Sie es sich vor wie die Ebola-Epidemie in Afrika. Sie können eine Handvoll Patienten hier behandeln. Doch den Impfstoff müssen Sie dort entwickeln, wo die Krankheit herrscht", zieht er den Vergleich. Um gleich darauf zu betonen, es handele sich hier um eine "Katastrophe aus Menschenhand", nicht um eine Naturgewalt. "Die internationale Gemeinschaft darf nicht länger die Augen verschließen."
"Ein Aufschrei müsste durch die ökumenische Bewegung gehen"
Schon seit vielen Jahren engagiert sich Youkhana mit der Hilfsorganisation CAPNI, "Christian Aid Program Northern Iraq", gemeinsam mit dem bayrischen Pfarrer Horst Oberkampf. CAPNI betreibt beispielsweise mobile Kliniken. "Es fehlen mir die Worte angesichts dieser unfassbaren Tragödie, die sich im Nordirak gegenwärtig abspielt", sagt Oberkampf. "Wer kann dieses Morden aufhalten und wie? Vorher war der Nordirak die sicherste Region - durch die Kurden. Vieles, was in den letzten Jahren aufgebaut wurde, wird jetzt wieder zerstört."
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Was man tun könne? Spenden sammeln natürlich. Aber auch Oberkampf fordert: "Die Politiker von außerhalb sollten endlich diplomatisch eingreifen, nicht militärisch, obwohl ich das manchmal auch denke, doch Kriege führen nicht weiter. Muslime müssten auch ihre Stimme erheben für die Christen und für die Jesiden, denen es genauso schlecht geht. Länder, die IS unterstützen und ausrüsten, müssen zur Rechenschaft gezogen werden". Dazu sollten auch die Christen in Deutschland noch besser über das Schicksal ihrer Brüder und Schwestern im Irak informiert werden. "Ein Aufschrei müsste durch die ökumenische Bewegung gehen. Das können wir doch nicht einfach hinnehmen. Die Menschen im Nordirak kämpfen um ihre Würde", sagt Oberkampf tief erschüttert. "Es sollte ein gemeinsames Gottesdienstopfer an einem Sonntag EKD-weit für Christen im Irak und Syrien angesetzt werden."
Emanuel Youkhana ist sich nur in einem sicher: "Die Menschen werden im Glauben bleiben, auch wenn sie verfolgt werden. Wir hoffen, sie können bald zurückkehren und neue Gotteshäuser bauen, wo ihre alten zerstört wurden."