Die Zahlen sind alarmierend: In den vergangenen Monaten hat die evangelische Kirche rasant an Mitgliedern verloren. Die Austrittszahlen, seit Jahren auf hohem Niveau, schnellten zum Teil um mehr als die Hälfte nach oben, wie eine epd-Umfrage ergab.
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Die bayerische Landeskirche meldet 14.800 Austritte im ersten Halbjahr 2014, das sind 56,6 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. In Württemberg lag die Steigerung von Januar bis März sogar bei 57,1 Prozent. Andernorts ist der Trend kaum besser, die katholische Kirche scheint gleichermaßen betroffen.
Hauptgrund ist offenbar eine Änderung im Steuerrecht. Ab 2015 wird die Kirchensteuer auf Kapitalerträge, also etwa Zinsen, automatisch von den Banken an den Staat weitergeleitet. Bisher war sie im Zuge der Steuererklärung fällig. Ob die Kirchen gut beraten waren, als sie sich für das neue Verfahren starkmachten, darf bezweifelt werden. Denn just als die Banken Anfang des Jahres ihre Kunden brieflich darüber informierten, traten viele verschreckte Protestanten und Katholiken aus der Kirche aus. Als Grund wurde in Briefen an Geistliche wiederholt das neue Verfahren genannt.
Haben Banken zum Austritt geraten?
Nun müssen die Kirchen deutliche finanzielle Einbußen befürchten. Dabei ändert sich im Grunde nichts. Weder gibt es eine neue Kirchensteuer noch eine Erhöhung. Falsch sind deswegen Schlagzeilen wie "Deutschlands Bischöfe greifen nach den Kapitalerträgen der Gläubigen", wie jüngst in einer großen Tageszeitung zu lesen war. Neu ist einzig, dass die Banken verschlüsselte Informationen über die Religionszugehörigkeit ihrer Kunden erhalten und diese weiterleiten. Fällig ist die Kirchensteuer ohnehin nur über einer jährlichen Freistellungsgrenze von 801 Euro für Alleinlebende und 1.602 Euro für Paare.
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Doch bei den Bankkunden kamen die Fakten scheinbar nicht an. In der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, die ein Drittel mehr Austritte verzeichnet, ist von einem förmlichen "Sparbuch-Schock" die Rede. Verantwortlich seien die Geldinstitute, deren Informationen zu "großer Verunsicherung" geführt hätten, äußert ein Sprecher. Auch nach Darstellung der Nordkirche verstanden viele Kunden die Bankbriefe so, dass eine zusätzliche Kirchensteuer eingeführt werde. In Einzelfällen hätten die Geldinstitute gar zum Kirchenaustritt geraten, so der Finanzchef der rheinischen Landeskirche, Bernd Baucks.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) versucht derweil, die Wogen zu glätten. Anlass der Umstellung sei nicht etwa die "Erwartung etwaiger Mehreinnahmen" gewesen, sondern der "Wunsch nach einem gerechten und einfachen Besteuerungsverfahren", sagt der Leiter der Finanzabteilung im EKD-Kirchenamt, Thomas Begrich. Er bedauert die Missverständnisse und räumt ein, die kirchlichen Kommunikationsstukturen hätten die Menschen "nicht deutlich genug erreicht". Der Fachmann verweist zugleich auf viele Informationsmöglichkeiten, unter anderem ein Servicetelefon.
Der letzte Auslöser
Auch die katholische Kirche klärt über die anstehenden Veränderungen auf, ist aber ebenso von der Austrittswelle betroffen. Viele Kirchensteuerzahler hätten erst durch die Bankbriefe erfahren, dass sie überhaupt Kirchensteuer auf Zinsen zahlen müssten, sagte ein Sprecher des Erzbistums Köln. In der Diözese Rottenburg-Stuttgart traten nach Medienberichten von Januar bis Juni rund 10.000 Menschen aus der Kirche aus - im gesamten Jahr 2013 waren es 14.617. Ein Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz sagte auf epd-Anfrage, die katholische Kirche wolle sich nicht an der gegenwärtigen Diskussion beteiligen.
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Trotz des Mitgliederschwunds steht die EKD zum deutschen Kirchensteuersystem - nur so könne die Kirche ihren gesellschaftlichen Auftrag erfüllen, sagt Begrich. "Uns ist bewusst", ergänzt Bischof Ralf Meister aus Hannover, "dass wir stärker als bisher nach den Gründen der Austritte fragen und gleichzeitig die Leistungen und Aufgaben der Kirche besser vermitteln müssen." Geld- und Steuerfragen, das ist den Verantwortlichen klar, sind für Christen oft nur der letzte Auslöser für den Austritt. Ihre Kirchenbindung haben sie zu diesem Zeitpunkt längst verloren. Dem gilt es stärker vorzubeugen.