Foto: akg-images / Paul Botzenhardt
Russische Zivilisten suchen 1942 nach Resten von Lebensmitteln in einem gesprengten Heeresverpflegungslager der deutschen Wehrmacht.
"Dass Millionen verhungerten, sah er als logische Folge"
Der Historiker Wigbert Benz im Interview über den NS-Staatssekretär Hans-Joachim Riecke
Millionen Menschen verhungerten im zweiten Weltkrieg, weil die Nationalsozialisten die Nahrungsmittel aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion abzogen. Verantwortlich dafür war Hans-Joachim Riecke, Staatssekretär im NS-Staat und Leiter der "Chefgruppe Landwirtschaft". Nach dem Ende der NS-Diktatur durfte er sich weiter in der Agrarpolitik betätigen, wo er den Nord-Süd-Konflikt von heute aktiv unterstützte. Der Historiker Wigbert Benz hat seine Biografie aufgearbeitetunter dem Titel "Vom Hungerplaner zum 'Welternährer' nach 1945".

Herr Benz, was war ihr Anstoß, sich mit der Biografie von Hans-Joachim Riecke zu beschäftigen?

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Wigbert Benz: Ich beschäftige mich seit dreißig Jahren mit dem deutschen Vernichtungskrieg im Osten. Dass Riecke als Leiter der Chefgruppe Landwirtschaft in Görings Wirtschaftsstab Ost Richtlinien verantwortete, die zwecks Ernährung der Wehrmacht und deutschen Bevölkerung viele Millionen Hungertote in der besetzten Sowjetunion einplante, wusste ich. Doch bis vor wenigen Jahren nicht, dass er sich nach dem Krieg als "Welternährer" und Vorwortgeber eines Friedensnobelpreisträgers präsentierte. Diesen Menschen wollte ich genauer unter die Lupe nehmen.

Was hat Sie besonders interessiert?

Benz: "Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird", wurde in einer Besprechung der Staatssekretäre vom 2. Mai 1941 festgehalten, an der Riecke teilnahm. Sieben Wochen vor dem deutschen Überfall. Als Kriegsverwaltungschef des Wirtschaftsstabes Ost exekutierte Riecke diesen Plan, soweit es irgend möglich war. Ich wollte herausfinden, wie und mit welchem Selbstverständnis er dies tat. Mit dem guten Gewissen, seinem Volk bis Kriegsende eine ausreichende Ernährung gesichert zu haben. Dass durch den Raub von Nahrungsmitteln im besetzten Osten Millionen Menschen verhungerten, sah er zum einen als logische Folge im weltweiten Ringen der Nationen an, bei dem sich die Interessen der Stärkeren durchsetzten, zum anderen als unvermeidlichen Kollateralschaden.

"Hier schließt sich der Kreis von vergangenheitspolitischer Entsorgung und ökonomischen Kalkül"

Sie schreiben zurückhaltend über den NS-Kriegsverbrecher Riecke und lassen vor allem die Fakten sprechen. Demnach scheint es nicht so zu sein, dass er sich seiner Verantwortung für den Hungertod von Millionen Menschen in der damaligen Sowjetunion jemals gestellt hätte, geschweige denn, dass er sein Mitwirken daran bereut hätte. Oder haben Sie darauf Hinweise gefunden?

Benz: Im Gegenteil. Es gibt eine klare Linie bei Riecke von seinen Aussagen in Nürnberg über sein Entnazifizierungsverfahren bis zu seinen unveröffentlichten Memoiren Ende der 1960er Jahre. Danach habe er alles getan, was angesichts der Kriegsrealitäten möglich war, um das Wohlergehen der sowjetischen Bevölkerung zu fördern. Gewisse Härten seien halt unvermeidlich gewesen. Ein Beispiel für sein Wirken an der "Heimatfront": Als 1942 die Lebensmittelrationen für die deutsche Bevölkerung aufgrund der Ausbeutung der Nahrungsmittel in den besetzten Gebieten, vor allem der Ukraine, erhöht werden konnten, verfügte Riecke in einem von ihm unterschriebenen Erlass des Ernährungsministeriums vom September 1942 fast zeitgleich, dass die Rationen der noch im Reich verbliebenen jüdischen Menschen drastisch eingeschränkt wurden. Bis zuletzt behauptete Riecke, mit diesem "Judenrationserlass" nur Schlimmeres verhindert zu haben. Im Übrigen habe die deutsche Bevölkerung 1945 und 1946 in der amerikanischen Besatzungszone stärkeren Hunger gelitten als die Juden 1942 im Deutschen Reich.

1958 hielt Riecke vor dem Hamburger Landesverband deutscher Diplomlandwirte und Agrarjournalisten einen Vortrag, in dem er die Stärkung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur "Notwendigkeit" erklärte: Gelinge die "Integration der westlichen Agrarwirtschaft" nicht, bleibe als Alternative "nur die Kolchose". Die  Länder des globalen Südens sollten als "Absatzmärkte" dienen. Ist der ehemalige NS-Stratege Riecke also mitverantwortlich für die subventionierten EU-Agrarexporte, die afrikanische Kleinbauern bis heute in der Armut festhalten?

Benz: Riecke ist sicher nicht direkt verantwortlich für die subventionierten EU-Agrarexporte und dadurch bedingte Armut afrikanischer Kleinbauern heute. Und doch trifft Ihre Frage einen Nerv. Denn als Prokurist und Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung des größten deutschen Agrarhandelskonzerns Alfred C. Toepfer setzte er sein Gewicht für eine Weichenstellung der EWG in Richtung Gewinnung von Absatzmärkten um jeden Preis ein. Dies bedeutete Erhöhung der EWG-weiten Agrarproduktion bei gleichzeitigem Ausschalten von einheimischen Konkurrenten auf diesen potentiellen Absatzmärkten. Bei Ländern, die sich selbst mit Nahrungsmitteln versorgten, gab es schließlich keinen Absatzmarkt zu gewinnen.

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Deutschland sah er als Kernstaat der EWG an. Dieser konnte umso effektiver seine Interessen durchsetzen, als es ihm gelang, vergangenheitspolitischen Ballast abzuwerfen. Deshalb hatte Riecke schon 1954 in seinem Vorwort zu John Boyd Orrs Buch "Werden nur die Reichen satt?" betont, Deutschland könne nun unbelasteter auftreten, da es weder Kolonien noch anderen umfangreichen Besitz in unterentwickelten Ländern sein eigen nenne. Hier schließt sich der Kreis von vergangenheitspolitischer Entsorgung und ökonomischen Kalkül.

Wie kam es dazu, dass Riecke das Vorwort zu Orrs Buch überhaupt schreiben durfte?

Benz: Aus welchen Beweggründen Riecke von Orr als Vorwortgeber für die deutsche Ausgabe seines Buches akzeptiert wurde, kann ich nicht sagen. Riecke galt jedoch 1954 offiziell als unbelasteter Landwirtschaftsexperte, gegen den weder in Nürnberg noch vor einem deutschen Gericht Anklage erhoben worden war. Auch sein Entnazifizierungsverfahren hatte er letztlich unbeschadet überstanden, obwohl er 1950 und im Berufungsverfahren 1952 in die Gruppe 2 der Belasteten eingestuft worden war. In dem Verfahren konnte oder wollte der damalige Ankläger keinen einzigen Belastungszeugen finden, der gegen Riecke etwa zu dessen Rolle bei der Ermordung Felix Fechenbachs, seiner Verantwortung für den Raub von Lebensmitteln und den Hungertod von Millionen Menschen in den besetzten Ostgebieten oder dem drastischen Absenken der Lebensmittelversorgung der bis dahin im Reich verbliebenen jüdischen Menschen in Rieckes "Judenrationserlass" 1942 aussagte. Statt dessen Dutzende eidesstattlicher Erklärungen, so genannte Persilscheine, die Riecke ausnahmslos bestätigten, damals in schwieriger Zeit mit größter persönlicher Integrität "Schlimmeres verhindert" zu haben.

"Die Stiftung hat die Ressourcen, Rieckes Jahrzehnte währende Rolle als Entscheidungsträger weiter zu untersuchen"

Was war denn Rieckes Rolle bei der Ermordung von Felix Fechenbach?

Benz: Riecke verstand sich schon von Kindesbeinen an als Offizier, der Deutschlands Interessen gegen eine feindliche Welt zu vertreten hat. Die zweite Komponente seines Selbstverständnisses bildete seine Ideologie der Volksgemeinschaft. Jedes Mittel, die Interessen dieser sogenannten Volksgemeinschaft durchzusetzen, war für ihn gerechtfertigt. Dazu galt es, Volksschädlinge auszumerzen. So war es nur konsequent, dass Riecke schon 1933 in seiner Zeit als Staatsminister des Kleinstaates Lippe die Überstellung des linken sozialdemokratischen Redakteurs und früheren Sekretärs Kurt Eisners, Felix Fechenbach, ins KZ Dachau beantragte und für den Transport "Hilfspolizisten" genehmigte, die Fechenbach bei einem angeblichen Fluchtversuch erschossen. In Nachkriegsverfahren wurden der SA-Mann Fritz Grüttemeyer und der SS-Mann Paul Wiese dafür wegen Totschlags zu vier bzw. fünf Jahren Haft verurteilt. Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen Riecke wurde 1964 eingestellt, da der konkrete Nachweis, dass er einen konkreten Tatauftrag erteilt hatte, nicht erbracht werden konnte. Wiese wurde später als Rieckes Dienstfahrer eingestellt.

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Wie ist Riecke mit dem Vorwurf umgegangen?

Benz: Nach dem Krieg wollte Riecke damit nichts zu tun haben, zudem sei ihm die Bedeutung Dachaus nicht bekannt gewesen. Er wirkte nun als "Offizier" eines Deutschland ohne Militärmacht, der dessen Interessen mit wirtschaftlichem Druck durchzusetzen half. In seiner Volksgemeinschaftsideologie traf er sich mit seinem Arbeitgeber und Chef des gleichnamigen Agrarkonzerns Alfred Toepfer, dessen Stiftung schon mit ihrer Gründung 1931 laut Satzung den Zweck verfolgte, der "Förderung des Deutschen Volkstums in Europa [zu] dienen" hauptsächlich den "an das Reich grenzenden, aber jenseits der Reichsgrenzen liegenden Ländern und Gebieten deutschen und niederdeutschen Volkstums".

Die Alfred-Toepfer-Stiftung verweist auf Ihre Biografie unter dem Titel "Sich der Verantwortung stellen". Genügt dies für den Umgang mit einem ehemals sehr geschätzten Firmenmitglied?

Benz: Die Alfred-Toepfer-Stiftung müsste meine Studie nicht empfehlen. Dass sie es tut, sehe ich als positives Signal. In dem von ihr geförderten Sammelband "Alfred Toepfer – Stifter und Kaufmann" wird Riecke nur ganz am Rande thematisiert. Notwendig wäre aber eine eigene dezidierte Auseinandersetzung der Stiftung mit ihrem langjährigen stellvertretenden Vorstand, der Zeichnungsvollmacht für den Vorstand besaß, also nicht nur irgendein "Gremienmitglied" war. In seinen Funktionen sowohl als Prokurist der Firma Alfred C. Toepfer als auch Vorstand der Stiftung, die als Kapitalträger der Firma diente, nahm Riecke prägenden Einfluss auf die Herausbildung der Strukturen, das operative Geschäftsgebaren und den Aufbau der personellen Kontaktnetze von Firma und Stiftung. Wenn seriöse Presseberichte vom Februar dieses Jahres, so des Hamburger Abendblatts, zeigen, dass gegen die heutige Firma Toepfer eine Geldbuße von 900.000 Euro wegen Korruption im Zusammenhang mit ihren Geschäften in der Ukraine verhängt wurde, hat das möglicherweise mit einer fehlgeleiteten Unternehmensethik zu tun. Und auch diese hat ihre Geschichte, an der Riecke nicht unbeteiligt war. Die Stiftung hat die Ressourcen, Rieckes Jahrzehnte währende Rolle als Entscheidungsträger weiter zu untersuchen.