Kriegsgräber in Belgien
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Kriegsgräber in Belgien
Schweigen und Beten und das Gerechte tun
An diesem Freitag um 12 Uhr haben Menschen in ganz Europa der Toten des Ersten Weltkrieges gedacht. Doch wie sollen wir eigentlich an sie denken? Sind die Soldaten "Opfer", hatte ihr Tod einen Sinn? Sich zu erinnern kann jedenfalls eine Chance auf Frieden und Versöhnung bieten. Christen haben dabei eine besondere Verantwortung, sagt Oberkirchenrätin Cornelia Coenen-Marx aus Hannover in ihren "Gedanken zur Woche" im Deutschlandfunk.

Er war erst 15. Mit tiefem Schmerz zeigten seine Eltern und Großeltern den Tod des jungen Gymnasiasten an. Für Deutschland gefallen. Eigentlich war er zu jung, um Soldat zu sein. Und auch das eiserne Kreuz über der Anzeige passte nicht wirklich. Er war bei einem Ernteeinsatz in Frankreich erschossen worden. Einen militärischen Rang hatte er noch gar nicht. Auf dem Kriegerdenkmal, auf dem zuletzt auch sein Name stand, nannten sie ihn einfach einen "Jungmann". Es war zu spüren: in allem Schmerz, trotz aller Verzweiflung waren seine Eltern froh, dass er dazu gehörte. Für Deutschland gefallen.

Diese Art von Stolz ist uns fremd geworden. Nur noch wenige können sich vorstellen, für das Vaterland zu sterben. Wenn es darum geht, alles zu geben, dann steht nach einer Umfrage die Familie heute ganz oben – im Alltag und auch im Katastrophenfall. Lange vor Beruf und Karriere, Heimat, Werten und Glaubensüberzeugung. Ich finde, es lohnt, darüber nachzudenken, was uns so wichtig ist, dass wir unser Leben dafür geben würden. "Wer nicht weiß, wofür er zu sterben bereit ist, der weiß auch nicht, wofür zu leben sich lohnt." Das hat Martin Luther King einmal gesagt. Der amerikanische Bürgerrechtler selbst war bereit, für die Freiheit und Gleichheit aller Menschen zu sterben, für Respekt und Würde jedes einzelnen und für das Miteinander von Schwarz und Weiß.

Kings Vision von Gemeinschaft lädt bis heute jeden ein. Sein Traum ist ein Traum mit offenen Armen. Er passt zum gekreuzigten Jesus, der Opfer und Versöhner zugleich war. Die Parolen dagegen, mit denen unser Volk vor 100 Jahren in den Ersten Weltkrieg zog, grenzten andere aus. Von einem Tag auf den anderen waren aus Freunden Feinde geworden: "Jeder Stoß ein Franzos". "Jeder Schuss ein Ruß". "Jeder Tritt ein Britt": Viele Forschungsarbeiten, die in diesem Jahr veröffentlicht wurden, zeigen die Verfehlung und die Hilflosigkeit der Politik. Sie zeigen aber auch die Komplizenschaft der Kirche.

Die Tränensaat für ein neues Europa?

Als heute vor 100 Jahren die Mobilmachung beschlossen wurde, sangen Tausende vor dem Ber liner Schloss "Nun danket alle Gott". In unzähligen Kriegspredigten haben Pfarrer Begeisterung und Opferbereitschaft geweckt. Und evangelische Theologen wie Paul Althaus sprachen vom "Heiligen Krieg", ja sogar vom "Krieg als Gottesdienst". Die anderen Stimmen, die im Namen Jesu zum Frieden riefen, wie die des schwedischen Bischofs Nathan Söderblom, verhallten dagegen fast ungehört.

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Heute Mittag um 12.00 Uhr halten überall in Europa Menschen inne, um an den Kriegsbeginn zu erinnern. Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa ruft zu einer Schweigeminute auf – von Island bis zum Balkan, von St. Petersburg bis Lissabon, von Hammerfest bis Ankara. In vielen Kirchen werden Gottesdienste gehalten. Längst ist die Begeisterung der Nachdenklichkeit gewichen.

Dabei wird es auch um diese Frage gehen: wofür lohnt es sich, Opfer zu bringen? Hat das Opfer des 15jährigen Jungmann gelohnt? Und was ist mit all den anderen – den 10 Millionen Toten, den 20 Millionen Verwundeten? Sind sie umsonst gestorben? Oder sind sie der Samen, die Tränensaat für ein neues Europa? Klar ist: Die neue europäische Friedensordnung ist auf den Trümmern zweier Weltkriegeentstanden. Wie zerbrechlich und gefährdet sie ist, das sehen wir in diesen Tagen. Plötzlich scheint alles wieder denkbar: Menschenverachtung und Großmachtträume, Willkür und Gewalt aber auch: Vernunft und Annäherung – ein gerechter Frieden.

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Dass Politik und Diplomatie diesmal standhalten und Zukunft gestalten, das wünscht sich wohl jeder in diesen Wochen. Christen haben dabei eine besondere Aufgabe – über alle Länder Europas hinweg. Schweigen und Beten gehört dazu. Es geht darum, auf die Geschichte der anderen zu hören, Erinnerungen zu heilen und so einen Beitrag zur Versöhnung zu leisten.

Diese Andacht wurde am Freitag, 1. August 2014, um 6.35 Uhr im Deutschlandfunk in der Rubrik "Gedanken zur Woche" ausgestrahlt.