Foto: epd-bild / Thomas Lohnes
Raus aus der Sonderwelt
Sie mähen den Rasen, fegen vor ihrem Haus die Straße und kaufen selber ein: In Wohngruppen mitten im Ort leben Behinderte selbstständiger als früher in der "Anstalt". Dorthin will keiner mehr. Doch die Wahlfreiheit ist noch nicht selbstverständlich.
26.07.2014
epd
Michaela Hütig

Christoph Witke kann zwar nicht alleine in einer Wohnung leben, aber seine Freiheit bedeutet ihm viel. Der geistig behinderte junge Mann träumt von einer Reise in die USA. Poster von Nationalparks, Skylines und Straßenkreuzern schmücken die Wände in seinem Zimmer. Dazwischen hängt ein Zettel mit der Bitte an die Betreuer, Christophs großen Traum ernst zu nehmen. Die Familie spart für Flüge nach Amerika in ein paar Jahren.

Der geistig behindert Christoph Witke (li.) spielt mit Teamleiter Christian Seidel Tischfussball.
Der ganze Stolz des 34-Jährigen ist seine Gitarre, auf der er Countrysongs nachsingt. Fühlt sich einer der acht Mitbewohner seiner Wohngruppe im südhessischen Seeheim davon gestört, zieht der dunkelblonde junge Mann mit der Brille die Zimmertür hinter sich zu.

So viel Privatsphäre und Individualität waren für Menschen mit Behinderung lange nicht üblich: Bis vor wenigen Jahren lebten die meisten in kasernenartigen Großheimen, oft abgeschottet und ausgeschlossen vom Leben in den Gemeinden.

Spätestens seit der deutschen Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 und der Debatte über Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion behinderter Menschen hat ein Umdenken eingesetzt. Viele Sozialunternehmen bauen zentrale "Anstalts-"Wohnplätze auf der grünen Wiese ab und bieten ihren Bewohnern an, in kleine Wohngruppen in der Region umzuziehen.

###mehr-info###Diesen Weg geht auch die Nieder-Ramstädter Diakonie, Trägerin der Seeheimer Wohngruppe. Bis vor wenigen Jahren lebten auf dem Gelände der größten Behindertenhilfe-Einrichtung Südhessens in Nieder-Ramstadt fast 600 Menschen. Bis 2015 sollen nach und nach 400 stationäre Wohnplätze in die Region verlagert werden. Etwa 300 Menschen sind schon in eine der knapp 30 Wohngemeinschaften umgezogen.

"Behinderte habe das Recht, mitten in der Gesellschaft zu leben"

"Hier war ein Umschwung dringend notwendig, die Zeit der Anstalten ist glücklicherweise vorbei", sagt die Sprecherin des Diakoniewerks, Marlene Broeckers. "Es gibt keinen Grund, warum Menschen mit Behinderung in einer Sonderwelt leben müssen. Sie haben das gleiche Recht, mitten in der Gesellschaft zu leben wie alle anderen Menschen auch." Für die meisten Eltern komme es heute nicht mehr infrage, ihr behindertes Kind in einem großen Heim unterzubringen.

Auch viele behinderte Menschen selbst wollen eigenständig über ihre Wohnform entscheiden, wie die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, sagt: "Es kann doch nicht sein, dass jemand, nur weil er zufällig eine Behinderung hat, automatisch nur in zentralen Einrichtungen leben soll." Dank der Dezentralisierung ehemaliger "Anstalten" könnten viele Menschen mit Behinderung am ganz normalen Leben teilnehmen: beim Einkaufen, im Café, beim abendlichen Ausgehen. 

Ganz normaler Alltag

Zu dieser Normalität gehören auch Pflichten, wie der Teamleiter der Seeheimer Wohngruppe, Christian Seidel, erklärt: Jeder Bewohner übernimmt kleine Aufgaben, mäht etwa den Rasen im großen Garten, bringt den Müll raus oder kauft ein.

###mehr-artikel###Für die Menschen sind das neue Erfahrungen, nachdem früher auf dem Gelände stets vor Ort für alles gesorgt war. "Aber wenn man die Leute fragt: Zurück nach Nieder-Ramstadt will keiner", sagt der Heilerziehungspfleger, der die WG mit sieben weiteren Mitarbeitern betreut.

Auch der Deutsche Behindertenrat lobt die Regionalisierung als Erfolgsmodell, sieht den Wandel aber noch lange nicht als abgeschlossen an. Die Diskussion über Inklusion in Schulen müsse auch über das Thema Wohnen geführt werden, sagte Ottmar Miles-Paul von der Interessenvertretung für Behinderte.