Ganz am Ende des Melt-Festivals bringen es Portishead dann auf den Punkt. Die Band aus Bristol spielt ihren Song "Machine Gun". Während beängstigend mächtige, hämmernde Beats aus dem Boxen dringen, laufen stakkatohaft Bilder des aktuellen Weltgeschehens über die Leinwand der Hauptbühne: Syrien, Ukraine, Israel. Irgendwo dazwischen, so tapfer wie zerbrechlich, die Stimme dieses Menschleins Beth Gibbons. Nach drei Tagen Sonne, Ausgelassenheit und Träumen kehrt auf einmal die Wirklichkeit mit aller Wucht zurück. Wer davon nicht ergriffen wird, der lebt wohl schon lange nicht mehr.
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Warum geht man zu Musik-Festivals? Natürlich wegen der Musik, die beim Melt traditionsgemäß gleichermaßen Electro- und Indie-Fans bedient. Und wegen der Gemeinschaft, dem Campen und vielleicht auch wegen der Drogen. Das ist alles wahr, klingt aber zu ausschließlich nach Spaß. Denn tatsächlich handelt es sich hier um eine ernste Angelegenheit. Worum es wirklich geht, ist Abstand. Abstand vom Alltag. Denn den, wie auch immer er gestaltet ist, kann kein vernünftiger Mensch auf Dauer ertragen. Es wird also existenziell.
Wer das für übertrieben hält, hat noch nie gesehen, mit welcher Inbrunst sich hier in die Beats geworfen wird. Freudevolle oder entrückte Gesichter, geschlossene Augen, manchmal Tränen darin. Die Indie-Bands reißen mit oder zu Jubelstürmen hin, aber gerade die abstrakte, manchmal auch archaische, elektronische Musik scheint einen Grund zu schaffen, über dem das Ich einmal frei strömen darf. Das hier macht Spaß. Aber es ist auch wichtig, keine Frage.
Hier geht es um alles
Wenn es um Abstand vom Alltäglichen geht, dann kann man sich wohl kaum einen besseren Ort als die Ferropolis vorstellen, wo das Melt-Festival seit 1999 stattfindet. In unmittelbarer Nähe von Gräfenhainichen, in der Mitte zwischen Leipzig und Berlin, liegt die "Stadt aus Eisen". Es sind die Überreste des Braunkohletagebaus im heutigen Sachsen-Anhalt. Und auch wenn dieser Vergleich schon strapaziert wurde: Die riesigen Schaufelradbagger, in deren Schatten sich die Musikbühnen, die Essenstände und die Dancefloors befinden, sehen wirklich aus wie Urtiere aus einer längst vergangenen Zeit. Irgendwie sind sie das ja auch.
Den Baggern verdankt man den See, der den Feierwilligen Abkühlung schenkt. Denn das Melt macht im Jahre 2014 seinen Namen alle Ehre. Es ist wirklich sauheiß. Aber nicht nur die Sonne, sondern auch viele der Music-Acts sind in diesem Jahr zum dahinschmelzen: Haim machen Pop, wie man ihn lange nicht gehört hat. Wenig Synthies, dafür äußert kompetent gespielte Instrumente. Die drei Schwestern haben ihren Michael Jackson verstanden. Dass sie irgendwie zwischen sexy und seltsam changieren, macht ihren Auftritt noch reizender.
Metronomy und The Notwist lassen die Indie-Herzen höher schlagen. Besonders hervorzuheben sind in diesem Segment aber die wunderbaren Future Islands. Mit größtmöglicher Dramatik präsentieren diese ihren Synthie-Pop. In seinen kurzen Ansprachen macht Sänger Samuel Herring klar: Hier geht es um alles.
Harte Bässe, knappe Shorts
Der DJ "Jackson and his Computerband" weiß dagegen ganz genau, wie man einen Tanzboden effektiv und gleichzeitig elaboriert zum Beben bringt. Fritz Kalkbrenner macht dann eher die Radiohörer unter den Technofans glücklich. Das tut sicher niemanden zu sehr weh.
Soviel Rücksicht nimmt Gesaffelstein nicht. Mit seinem Hochgeschwindigkeits-Techno bügelt er alles nieder. Insgesamt ist in diesem Jahr eine Vorliebe für besonders harte Bässe zu beobachten, dafür führen Four Tet und Lone dann mit viel Willen zum Melodischen die ganze Bandbreite aktueller elektronischer Musik vor. Moderat spielen das Publikum mit klugen Dramaturgien in Trance.
Alles im allen perfekte Bedingungen also, um sich zu verlieren. Und dafür sind die Leute schließlich gekommen. Aber manch einer von ihnen merkt, dass er sich längst verloren hat. Dem einen wird angesichts der vielen jungen Damen in knappen Shorts klar, wie einsam er sich eigentlich fühlt, der anderen wird bei der erhabenen Größe von so mancher Musik deutlich, wie unbedeutend sie ihr eigenes Tun empfindet. Plötzlich wird man von der Wirklichkeit erwischt, so wie beim Auftritt von Portishead.
Hier die Bagger, dort der Kirchturm
Während auf der einen Seite des Sees die riesigen Metallmaschinen ruhen, streckt sich gegenüber, gut sichtbar, der Turm der Kirche von Gräfenhainichen in den Himmel. Dort bot man in diesem Jahr ein Begleitprogramm zum Melt-Festival an. Die Kirche selbst wurde zu einem Raum der Stille erklärt, in dem man sich ein bisschen vom Treiben in der Ferropolis ausruhen kann. Abstand vom Abstand sozusagen. Darüber hinaus gibt es Gottesdienste, Musik, Taizé-Gebete und ein Seelsorge-Angebot.
Am Sonntagvormittag liegen auf einer Wiese vor der Kirche einige Musikfans. Die Strapazen der letzten Nächte sind ihnen deutlich in die Gesichter der Schlafenden geschrieben. Aber hier, unter der großen Eiche und in der Nähe des kühlenden Kirchengemäuers finden sie wohl Erholung.
In der Kirche verhallen gerade die letzten Orgeltöne des sonntäglichen Gottesdienstes. Schlecht besucht ist die Kirche nicht, auch wenn die Eisdiele nebenan noch voller ist. Gerade bedankt sich die Pfarrerin bei allen, die beim Begleitprogramm zum Festival helfen. "Wir haben uns immer gefragt, ob sich der Aufwand lohnt, für die Zehne die da kommen. Aber am Ende waren es Hunderte", sagt sie im charmanten regionalen Singsang. Dann schickt sie die Gemeinde wieder raus in die Hitze. Drinnen werden Kerzen angezündet. Die Kirche wird wieder zum Raum der Stille.
Das Bildungsbürgertum macht Urlaub
Laut der Verantwortlichen Pastorin Anika Scheinemann-Kohler bis zum Sonntagvormittag etwa 200 Festivalbesucher in die Gräfenhainicher Kirche gekommen. Das heißt, dass ungefähr jeder hundertste Besucher des Festivals das Angebot der Kirchengemeinde wahrgenommen hat. Für die Organisatoren ist die Aktion damit ein voller Erfolg und ein gelungener Testlauf für das Reformationsjubiläum 2017, das ebenfalls viele Menschen in die Region bringen soll.
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Aber was suchten die Festivalbesucher dort? Schließlich ist es kein kurzer Weg von der Ferropolis bis zum Ortskern von Gräfenhainichen. Ganz sicher hat auch das Wetter dazu beigetragen, dass sich so viele sich in die Kühle der Kirche begaben. "Die meisten haben die Kirche tatsächlich als einen Ort der Stille genutzt", sagt Scheinemann-Kohler, die im Kirchenkreis Wittenberg für "Glaube & Reise" zuständig ist. "Sie saßen einfach hier, ruhten sich aus oder dachten nach. Teilweise sehr lange." Rührend ist auch, dass eine anderes Angebot besonderen Anklang fand: "Viele kamen hierher um eine Kerze anzuzünden. Sie wollten nochmal an die Oma oder an jemand anderen denken, bevor sie wieder tanzen gehen."
"Das war vor allem junges Bildungsbürgertum", sagt die Pastorin über die Kirchgänger dieses Wochenendes und beschreibt damit gleichzeitig den durchschnittlichen Melt-Besucher. "Die waren überraschend interessiert an der Geschichte der Kirche. Viele wussten gar nicht, dass Gräfenhainichen so nah an Wittenberg liegt." Für sie war der Besuch der Kirche offensichtlich ein Bildungsurlaub.
Wo die Brüche sind, wird's spannend
Das Seelsorgeangebot wurde dagegen kaum in Anspruch genommen – zumindest von den Festivalbesuchern. Dafür aber von der örtlichen Bevölkerung. "Es kam zum Beispiel ein Mann, der ein Kind verloren hat. Es wäre jetzt im Alter der jungen Leute auf dem Melt gewesen. Das Festival machte seine Trauer unerträglich, deswegen kam er verzweifelt hierher." Auch das sind Geschichten vom Verlieren und Finden.
Das Programm in der Gräfenhainicher Kirche war als Unterbrechung zum Treiben auf dem Festivalgelände gedacht. Aber vielleicht suchten die Menschen in der Kirche nicht wirklich etwas anderes als in der Baggerstadt: Abstand, etwas das über ihr Leben hinausweist. Man könnte das auch Spiritualität nennen. Das hat natürlich keineswegs unbedingt etwas mit dem Christentum zu tun, aber doch mit einem menschlichen Grundbedürfnis, das sowohl in den alten Kirchenmauern, als auch zwischen den Baggern der Ferropolis bedient wurde.
Der Veranstalter des Melt-Festivals unterstützte die Aktion der Gräfenhainicher Kirche zwar, wollte sie aber nicht ins offizielle Programm aufnehmen. Man möchte religiös neutral bleiben, hieß es. Das ist einerseits zwar verständlich, andererseits war das Melt in diesem Jahr immer dann am spannendsten, wenn es zu Brüchen kam. Etwa als der syrische Hochzeitmusiker Omar Souleymann mitten in der Nacht die Bühne betrat und die Menge mit seiner traditionellen Musik aus einem vom Krieg erschütterten Land ebenso in Ekstase brachte wie die DJs vor ihm. Oder eben Portishead mit ihrem denkwürdigen Auftritt. Da mündete die Distanzierung von der Realität in eine neue Konfrontation mit ihr. Das ist ziemlich spirituell.
Omar Souleyman - Warni Warni (Official Video) - YouTube from MuhamadAmruEldan on Vimeo.