Foto: dpa/Patrick Pleul
Erntehelfer bei der Gurkenernte. Auch für diese Helfer soll der Mindestlohn gelten - und das hilft allen, sagt der Politikwissenschaftler Hermann Adam.
"Es ist kurzsichtig, nur auf den eigenen Vorteil zu achten"
Der Mindestlohn nutzt allen, sagt der Politologe Hermann Adam
In Deutschland wird 2015 erstmals ein allgemeiner Mindestlohn von 8,50 Euro je Stunde gelten. Die Bundesregierung geht davon aus, dass sich der Mindestlohn für 3,7 Millionen Arbeitnehmer vorteilhaft auswirkt. Doch sind die anderen Bundesbürger eigentlich dazu bereit, den Mindestlohn anzunehmen und mitzufinanzieren? Der Berliner Politologe Hermann Adam zeigt sich im Interview optimistisch, dass am Ende alle gewinnen.

Rund 80 Millionen Bundesbürger haben unmittelbar gar nichts vom Mindestlohn, kriegen aber dessen Auswirkungen zu spüren: Der Friseurbesuch wird teurer und die Pflaumen auf dem Markt auch. Sind die Menschen bereit, mehr zu zahlen?

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Hermann Adam: Das hängt von den einzelnen Produkten ab. Zum Friseur muss man gehen. Man kann allenfalls den Besuch zeitlich ein wenig strecken. Bei Spargel oder Erdbeeren ist es anders, weil da Konkurrenz aus dem Ausland auftritt, wo die Arbeitskräfte nicht 8,50 Euro die Stunde bekommen. Dann fragt es sich tatsächlich, was macht der Verbraucher, wenn er im Supermarkt steht und die Produkte aus Holland oder Polen sind günstiger.  

Was erwarten Sie denn als Verhaltensökonom – geiz ist geil?

Adam: Ich fürchte ja! Konsumenten werden zu preiswerteren Produkten greifen und nicht daran denken, die deutschen Mindestlohn-Produkte zu kaufen. Dies sind ja meist "homogene" Güter: Der Unterschied zwischen einer spanischen und einer deutschen Erdbeere ist nicht feststellbar. Das ist bei industriellen Erzeugnissen anders.

"Je mehr ich meine Kosten drücke, desto kleiner werden die Einkommen anderer"

In der deutschen Industrie wird ohnehin weit mehr als Mindestlohn gezahlt. Insofern ist der Mindestlohn für Bereiche heikel, die besonders "preisreagibel" sind.

Adam: Beispielsweise in der Gastronomie. Da gelten zwar für alle Gaststätten die gleichen Bedingungen, aber der Konsument wird sich fragen, ob er, zwei Euro mehr für ein Schnitzel zahlen soll. Oder es sich lieber selbst in der Pfanne brät.   

Ähnliches passierte 2002 nach der Euro-Einführung, als Restaurantbesuche gefühlt unglaublich teuer wurden.

Adam: Ja, das betrifft das normale Restaurant, in dem Du und ich Essen gehen. Nicht das Sterne-Restaurant. Deren Kunden müssen nicht auf den Cent achten. 

Unterm Strich erwarten Sie also ähnliche Ausweichbewegungen, wie wir es etwa beim Thema Billig-Klamotten haben: Einerseits große moralische Entrüstung über die Arbeitsbedingungen in Bangladesh, anderseits boomen die Billig-Discounter mit Kleidern und Hosen aus Bangladesh.

Adam: Unser ganzes Wirtschaftssystem basiert ja darauf, dass man versucht, seine eigenen Kosten möglichst niedrig zu halten und seine eigenen Leistungen möglichst teuer zu verkaufen. Es wäre also geradezu ein widersprüchliches Verhalten, wenn der einzelne Konsument nicht auf seinen Vorteil bedacht wäre.

Also triumphiert der Homo oeconomicus.

Adam: Es ist ein grundlegendes Dilemma, dass Menschen die ökonomischen Zusammenhänge nicht durchschauen. Sie lassen vollständig außer Acht, dass meine Kosten als Konsument die Basis für das Einkommen eines anderen sind. Je mehr ich meine Kosten drücke, desto kleiner werden die Einkommen anderer. Das trifft übrigens immer die sozial Schwächeren.

"Durch den Mindestlohn entsteht insgesamt ein Druck nach oben"

So betrachtet, verhalten sich Verbraucher ökonomisch irrational, wenn sie angesichts des Mindestlohns auf den Cent schauen.

Adam: Ja. Es ist kurzsichtig, nur auf den augenblicklichen eigenen Vorteil zu achten.

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Ist das nicht zu pessimistisch? Denken wir an die großen Diskussionen um die Renten und den Generationenvertrag. Am Ende hat die Solidargemeinschaft doch gehalten.

Adam: Richtig, und das wird hoffentlich auch beim Mindestlohn der Fall sein, selbst wenn einige Arbeitsplätze verloren gehen. Letzteres wird allerdings nicht die Dimension erreichen, wie es die Gegner des Mindestlohnes erwarten.

Vertrauen ist gut, Kontrolle angeblich besser. Galt bislang nur die Bauwirtschaft als schwarzes Schaf, geraten nun auch Bäckereien, Frisiersalons und Supermärkte ins Visier des dafür zuständigen Zolls. Droht eine Kultur der Kontrolle in Gewerbe und Handwerk?

Adam: Ich denke, die überwiegende Mehrzahl wird sich an Recht und Gesetz halten und den Mindestlohn zahlen. Sie braucht daher Kontrollen nicht zu fürchten. Schwarze Schafe wird man nie ganz ausschließen können.

Der Mindestlohn wird also trotz einiger Irrungen und Wirrungen am Ende funktionieren?

Adam: Er wird sich auf Dauer auszahlen. Und zwar auch für die übrigen 80 Millionen, die jetzt vom Mindestlohn nicht unmittelbar profitieren! Das Mindestlohn-Gesetz heißt ja zu Recht "Tarifautonomiestärkungsgesetz": Wenn nach unten eine Grenze bei den Löhnen eingezogen wird, wissen die Arbeitsgeber, sie können die Löhne nicht bis zum Gehtnichtmehr drücken. Das wird die Verhandlungsposition der Gewerkschaften ungemein stärken. Außerdem werden diejenigen, die jetzt knapp über dem Mindestlohn liegen, ihren Arbeitgeber fragen: Was ist mit meinem Lohn? Jetzt hat der andere gleichgezogen und ich möchte eine Anerkennung für meine Leistung. Das setzt sich dann fort. Durch den Mindestlohn entsteht so insgesamt ein Druck nach oben.