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"Das Gewissen ist nicht die Stimme Gottes"
Unser Gewissen lenkt uns, egal ob im Alltag oder bei wichtigen Entscheidungen. Ein Interview über Gewissensnöte und die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen mit Domprediger Thomas C. Müller vom Berliner Dom.

Warum uns das 2014 wichtig war: Manchmal führt man Interviews und währenddessen wird einem klar: Das ist nicht nur ein Interview, sondern ein ganz wichtiges Gespräch. Eigentlich wollte ich Domprediger Thomas C. Müller vom Berliner Dom nur zwei oder drei Fragen für einen Artikel zu einem ZDF-Fernsehgottesdienst stellen. Am Ende wurde unser ganzes Gespräch über Gewissensnöte und Eigenverantwortung veröffentlicht. Ich erinnere mich gerne daran zurück - vor allen Dingen, wenn ich mal selbst vor einer Gewissensentscheidung stehe.

Franziska Fink, freie Journalistin bei evangelisch.de


 

Herr Pfarrer Müller, am Sonntag, 20. Juli geht es im ZDF-Fernsehgottesdienst um Gewissensfragen. Was ist eigentlich das Gewissen? Warum haben wir überhaupt ein Gewissen?

Thomas C. Müller: Warum wir ein Gewissen haben, das kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich glaube, wenn man sich dem Thema nähert, dann stellt man fest, dass es so etwas gibt wie einen Ort, an dem wir sozusagen innere Gespräche führen, wo Wertvorstellungen und Überzeugungen miteinander im Gespräch sind, manchmal auch miteinander kämpfen und konkurrieren.

Immanuel Kant hat das Gewissen als das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes bezeichnet. Ich finde, das ist eine gute Beschreibung. Das Bild macht deutlich, dass sich unterschiedliche Stimmen zu Wort melden, dass es Ankläger, Angeklagte und Verteidiger gibt. Das beschreibt das innere Ringen, dass Menschen in bestimmten schwierigen Grenzsituationen erleben, ziemlich gut.

In Ihrem Gottesdienst am 20. Juli wollen Sie auch an das Attentat auf Hitler vor 70 Jahren erinnern. Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Mitstreiter waren damals sicherlich auch in einem großen Gewissenskonflikte. Sie fürchteten bestimmt die Konsequenzen für sich und ihre Familien. Sind das besonders starke Menschen, die sich in so einer Situation für den schwierigen Weg entscheiden und ihrem eigenen Gewissen folgen?

Müller: Ich bin unsicher, ob man das so bezeichnen sollte. Zunächst sind das ganz normale Menschen, die sich eine Sensibilität bewahrt haben für eine innere Stimme, die ihnen sagt: Du bist hier in einer besonderen Verantwortung. Du kannst dich nicht mehr damit herausreden, dass alle anderen sich keinen Kopf machen, sondern du bist gerufen.

Diese Metaphorik von "gerufen sein" ist sicherlich stimmig. Man fühlt sich sozusagen als Angesprochener. Das heißt nicht, dass das Gewissen zwangsläufig - wie das manchmal auch im Laufe der Christentumsgeschichte interpretiert wurde - die Stimme Gottes in uns ist. Das so zu nennen wäre problematisch. 

Ein Theologe des 20. Jahrhunderts, Karl Barth, war gegenüber dem Gewissenbegriff sehr kritisch, denn das Gewissen kann auch in die Irre leiten. Das Gewissen ist in dem Sinne keine metaphysische Größe, sondern ist geprägt durch Erziehung, Konventionen, Wertvorstellungen, die uns von Eltern oder anderen mitgegeben wurden. Wie das Gewissen gestaltet ist, das ist eben auch abhängig von der Zeit, in der wir leben. Das Gewissen beschreibt, wo wir empfänglich sind für Verantwortung, die wir als Individuen haben. Zu was uns dann das Gewissen führt, kann sehr unterschiedlich sein.

Ein schlechtes Gewissen kennt man auch aus dem Alltag. Eigentlich könnte man permanent ein schlechtes Gewissen haben: Ich habe zu wenig Zeit für meine Kinder, meine Familie, meine Freunde. Wie werde ich den Ansprüchen an meiner Arbeit gerecht? Wie werde ich meinen eigenen Ansprüchen gerecht? Bis hin zu Fragen wie: Darf ich noch Fleisch essen oder Billig-T-Shirts kaufen?  Wie kann man sich davon frei machen, allem und allen gerecht werden zu wollen und gleichzeitig nach dem eigenen Gewissen handeln?

Müller: Das Gewissen führt uns an die Grenzen der Erkenntnis, dass wir begrenzte Menschen sind, die nicht an die Stelle Gottes treten können. Gleichzeitig hat das schlechte Gewissen durchaus eine positive Funktion. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der Menschen grundsätzlich kein schlechtes Gewissen mehr haben. Natürlich gibt es auch kranke Verformungen des schlechten Gewissens, wo man nur noch mit schlechtem Gewissen rumläuft. Aber das schlechte Gewissen kann uns auch auf etwas aufmerksam machen.

Was jetzt aber ein gerechtfertigtes schlechtes Gewissen ist - im positiven Sinn - und was eine krankhafte Form ist, wo ich auch mal dazu stehen muss, dass ich ein begrenzter "sündiger" Mensch bin, das kann jeder nur selbst beurteilen.

"Jeder kann Verantwortung für seinen Bereich übernehmen"

Wann hatten Sie eigentlich das letzte Mal ein schlechtes Gewissen und warum?

Müller: Gegenwärtig beschäftigt mich, und vielleicht auch andere, die Weltsituation, die eigentlich danach ruft, dass wir von bestimmten Lebensstilen wegkommen müssen. Ich glaube, dieses "So geht es nicht weiter!" bewegt viele Menschen. Gleichzeitig sind wir befangen, weil wir merken, wir können nicht so einfach aus dieser Gesellschaft aussteigen.

Ich finde, ein Weg damit umzugehen, wäre weg von der Ohnmacht des schlechten Gewissens, also dem "Ich würde gerne, aber kann nicht". Stattdessen kann jeder Verantwortung übernehmen für den Bereich, den er oder sie hat. Es ist wichtig, das Konkrete, das Mögliche anzustreben und weg von den Fantasien, dass man jetzt alles ändern und über Bord werfen muss. Das wäre ein erwachsener Umgang. Dietrich Bonhoeffer hat dazu einmal gesagt "Nicht im Möglichen schweben, sondern das Wirkliche tapfer ergreifen."

Das heißt also ganz konkret Verantwortung übernehmen für das eigene Handeln, sich entscheiden, wie man mit seinen Mitmenschen und seiner Umwelt im hier und jetzt umgeht. Und daraus resultiert dann auch eine innere Haltung.

Müller: Ja, genau. Wir können mit unserem schlechten Gewissen nicht die Welt komplett verändern, aber wir können für den Bereich, der uns obliegt, konkret Verantwortung ergreifen.

Das zeigt uns die Geschichte auch immer wieder am Beispiel von Leuten, die auf ihr Gewissen gehört haben. Das Bewundernswerte ist nicht, dass diese Menschen große Heldentaten vollbracht haben. Natürlich hat Stauffenberg an der entscheidende Stelle etwas gemacht. Aber dass er an dieser entscheidenden Stelle war, war nicht sein Verdienst. Er hat einfach versucht, das Konkrete in seinem Wirkungsbereich zu tun. Genauso wie Bonhoeffer auch.

Ich denke, dass kann man von diesen Menschen lernen: Nicht dass wir große Heldentaten tun, sondern das Konkrete und Nächstliegende zu gestalten. Gewissen bedeutet, dass wir keine Getriebenen sind, sondern wir sind frei. Wenn ich mich aber in einer Gewissensnot befinde, mich also zwischen zwei Handlungen entscheiden muss, die beide vom Gewissen gefordert werden, aber einander widersprechen - was kann ich dann tun?

Bonhoeffer hat dazu gesagt, dass wir immer schuldig werden. Wir werden mit jeder Entscheidung, die wir treffen, auch Schuld auf uns laden. Es gibt keine Entscheidung, die uns vollkommen frei macht. Das ist eine Fantasie vom paradiesischen Leben, aber das konkrete Leben besteht darin anzuerkennen, dass wir schuldig werden und dass wir nur leben können unter der Bedingung, dass uns ein Gott begleitet, der uns Schuld vergibt. Wir können nicht die Gesamtverantwortung alleine tragen. Und die christliche Botschaft ist eine, die uns zusagt, egal was ist, du bist getragen.

Zudem müssen wir mit Gewissensentscheidungen nicht alleine bleiben. Es ist zwar eine wesentliche Kernbotschaft des Christentums, dass wir nur selbst Entscheidungen treffen können. Gleichzeitig können wir uns aber in Konfliktsituationen mit anderen zusammentun, um unterschiedliche Stimmen auch miteinander ins Gespräch zu bringen und dann auch ein Stück gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Der Schritt vom individuellen Gewissen zum gemeinschaftlichen Nachdenken ist wesentlich.

"Manchmal muss man eben auch das Gesetz predigen"

Wie kann man diesen Schritt tun?

Müller: Vielleicht ist der erste Schritt, dem eigenen Gewissen zu folgen, mit der Fragestellung, nicht allein zu bleiben und in Gemeinschaft mit anderen zu treten. Ich glaube allerdings, dass wir in der heutigen Zeit auch eine deutliche Ansprache brauchen und dass manchmal die Kirche durchaus eine klare Ansprache geben muss.

Wir denken dann zwar vielleicht schnell an den erhobenen Zeigefinger. Aber ich erinnere daran, dass Martin Luther gesagt hat, die Verkündigung besteht aus Gesetz und Evangelium. Und manchmal muss man eben auch das Gesetz predigen. Die Propheten haben den Leuten auch mal ins Gewissen gepredigt. Natürlich geht es nicht darum einen prophetischen Dauerton anzuschlagen. Aber manchmal muss man eben auch ganz klar sagen, was man für gefordert hält.

Wir haben heute eine komplexe Gesellschaft und Empfehlungen für Handlungsweise sind schwieriger. Alles ist ambivalent und alles was man tut, hat negative Folgen. Aber das darf nicht zur Ausrede werden.

Der individuellen Gewissensentscheidung wird im protestantischen Glauben ein großes Gewicht beigemessen. Das bringt aber auch viel Eigenverantwortung mit sich - das eigene Gewissen fordert dazu auf zu reflektieren, sich Gedanken zu machen, seinen Weg zu finden. Wie kann in diesem Zusammenhang Gewissensbildung aussehen?

Müller: Es ist wichtig, Menschen ein Gefühl für die inneren Vorgänge zu geben, die in jedem ablaufen. Wir leben in einer Zeit, die sehr von außen bestimmt ist. Gleichzeitig verlieren die Menschen die Fähigkeit, die Dinge, die in ihnen vorgehen, ernst zu nehmen. Dazu gehören auch Gefühle wie Wut oder Ohnmacht. Indem ich diese aber bewusst wahrnehme, kann ich lernen damit umzugehen.

Es ist wichtig, dass wir gerade auch Kindern deutlich machen, dass es eine Welt in uns gibt, die wir ernst nehmen müssen. Dabei kommt es nicht drauf an, ob das etwa im Fernsehen groß rauskommt oder überall dort, wo man alles nur auf der Oberflächenebene als real ansieht.

Es ist wichtig ein Gegengewicht zu schaffen zur äußeren Welt, zum äußeren Erfolg, zur äußeren Realität, die heutzutage eine so wichtige Rolle spielt, weil sie auch die einzige ist, die medial vermittelt wird. Aber es gibt eben auch diese andere, innere Welt und die ist genauso ernst zu nehmen wie die andere.

Aber es erfordert auch Mut, sich dieser inneren Welt zu stellen. Denn dadurch wird man auch mit den eigenen Schwächen und Ängsten konfrontiert.

Müller: Ja, das erfordert viel Mut, Frustrationstoleranz und auch Verzicht. Denn manchmal handle ich vielleicht nach meinem Gewissen, aber andere nehmen das gar nicht wahr und erkennen das nicht an.

Das hat dann aber auch wieder etwas mit dem Glauben zu tun: Zu glauben, dass diese innere Welt wichtig und real ist und das Tor zu Erfüllung, zum Glück, zur eigenen Identität. Das ist auch die Ebene, auf der ich Gott begegnen kann. Auf ihr kann ich auch eine wirkliche, erfüllende Verbindung zu anderen Menschen erleben. Im Grunde geht es um die Frage: Ist die Liebe Realität oder nicht? Ist Glaube, Hoffnung, meine ganze innere Welt und meine Beziehung zu Gott und anderen Menschen Realität oder nicht?  Wenn das alles Realität ist, dann hat das auch ein eigenes Gewicht und dann kann ich das auch ernst nehmen.