Am geheimnisumwobenen Pessachabend spielen in allen jüdischen Familien die Kinder die Hauptrolle. Sorgfältig einstudiert, in klassischem Hebräisch, stellen sie die Frage, die seit Jahrhunderten gleich geblieben ist: "Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?" Und der Hausvater beantwortet ihre Frage ebenfalls seit Jahrhunderten auf dieselbe Weise, indem er die Geschichte der Befreiung seines Volkes erzählt: "Einst waren wir Sklaven des Pharao in Ägypten. Aber der Ewige, unser Gott, führte uns von dort heraus mit starker Hand und ausgestrecktem Arm."
Pessach, das in diesem Jahr vom 7. bis zum 14. April gefeiert wird und mit Ostern am 8. April zusammenfällt, ist ein bedeutendes jüdisches Familienfest. Jedes Jahr wieder tauchen Juden an diesem Abend in eine Wunderwelt ein: Kristallgeschirr und Silberbecher, brennende Lichter, ein festlich gedeckter Tisch mit einer Fülle von Speisen, die alle ihre Bedeutung haben.
Wenn diese Speisen unter entsprechenden Erläuterungen verzehrt werden, wenn die alte Geschichte vom Auszug aus Ägypten vorgelesen wird und die Familie sozusagen reisefertig am Tisch mit dem hastig gebackenen ungesäuerten Brot sitzt, dann geht es nicht einfach um Erinnerung an biblische Zeiten. Die Botschaft von Pessach ist für die Juden: Gott erlöst aus der Knechtschaft. Vor ihm gibt es nur freie Menschen, und so sollen sie auch leben.
Das Kultmahl erinnert an die Befreiung
In der Pessachfeier, die im jüdischen Monat Nissan am Abend des ersten Frühlingsvollmonds beginnt, sind zwei uralte Feste verschmolzen: ein nomadisches Opferfest und ein Erntefest von Ackerbauern. Später erst verband sich dieses Frühlingsfest mit der Erinnerung an den Aufbruch aus Ägypten, die Befreiung aus dem "Sklavenhaus" des Pharao, wie man sagte.
Pessach bedeutet "vorübergehen, verschonen". Nach den Berichten im Zweiten Buch Mose ließ Gott die erstgeborenen Kinder der Ägypter töten, verschonte aber die Israeliten und verhalf ihnen zur Flucht aus der ägyptischen Knechtschaft.
Diese Befreiungserfahrung schweißte die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs zu einer Nation zusammen; von daher datierten die Juden jahrhundertelang ihren Kalender. Das Kultmahl des alten Frühlingsfestes verwandelte sich nun zu einer stellenweise fast szenischen Vergegenwärtigung des Exodus, wie man den Auszug aus Ägypten nennt.
Auf dem festlich gedeckten Tisch liegt das "Brot des Elends" oder, wie es auch heißt, "Brot der Befreiung". Es handelt sich um dünne Brotfladen aus Mehl und Wasser, Matzen. Der Matzen-Teig wird flach ausgerollt und sofort gebacken, damit es zu keinem Gärungsprozess kommen kann. Genau so muss es beim eiligen Aufbruch der Israeliten aus Ägypten gewesen sein, als keine Zeit mehr war, die Gärung des hastig gebackenen Reiseproviants abzuwarten.
Ein Schüsselchen mit Salzwasser erinnert an die in der Knechtschaft vergossenen Tränen. Frisch geraspelter Meerrettich steht ebenfalls für die bittere Zeit der Unterdrückung, ein zähes Fruchtmus aus Äpfeln, Walnüssen, Wein und Zimt für den Mörtel, den die Israeliten beim Bau der ägyptischen Städte anrühren mussten. Man taucht den scharfen Meerrettich in den süßen Fruchtbrei und spricht: "Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, der uns geheiligt hat durch seine Gebote und uns befohlen hat, die bitteren Kräuter zu essen."
Die Hingabe des eigenen Lebens aus Liebe
Auch das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern war nach einigen neutestamentlichen Berichten wohl ein Essen zum Pessachfest. Die Christen waren am Anfang eine jüdische Sekte, und ihr Osterfest wäre kaum zu denken ohne die jüdische Pessachnacht, in deren Tradition es steht: Hier wie dort der Sieg des Lichtes über die Finsternis, der Übergang aus der Knechtschaft in die Freiheit. Beide Male eine Befreiungsbotschaft: der Auszug aus dem Sklavenland Ägypten und die Auferstehung aus dem Grab.
Auch in der christlichen Osternachtfeier wird die biblische Geschichte vom Durchzug der Israeliten durch das Meer und vom Untergang der Ägypter in den Fluten vorgelesen. Im Mittelpunkt beider Feiern - Pessach und Ostern - steht das geopferte Lamm. Im Tod ihres Messias am Kreuz sahen die Christen von Anfang an nicht mehr ein Schlachtopfer wie in archaischen Zeiten, um mürrische Götter oder gefährliche Dämonen milde zu stimmen, sondern die Hingabe des eigenen Lebens aus Liebe.
Sein Tod begründet die Eucharistiefeier der Kirche. Wie es Bischof Melito von Sardes in Kleinasien um 180 in der ältesten erhaltenen Osterpredigt auf poetische Weise erläutert: "Nun begreift also, Geliebte, wie neu und wie alt, wie ewig und dem Augenblick zugehörig, wie vergänglich und unsterblich es ist, das Pessach-Mysterium: Als Sohn wurde er geboren, als Lamm geschlachtet und als Mensch begraben; von den Toten erstand er als Gott".