Die neutestamentlichen Schriften geben ein eindrückliches Bild für einen einzigartigen Sachverhalt: aus einer Hinrichtung wurde ein religiöses Symbol für Heil und Erlösung. Vom Rückblick jener Ereignis- und Erfahrungskonstellation, die wir als Auferstehung bezeichnen, erschien den frühen Christen der Tod Jesu am Kreuz in einem anderen Licht. Er war nicht länger das totale Scheitern Jesu, das die Jünger in Flucht und Verzweiflung stürzte, sondern genau umgekehrt: Jesu Tod wurde zum Grund der Hoffnung, weil er aus Sicht der Menschen 'für uns' geschah. Es handelt sich hier – so hat es Kollege Jens Schröter formuliert – um ein "Geschehen mit einer positiven Wirkung für andere".
Der Versuch der ersten Christen, den tiefen religiösen Sinn des Todes Jesu in Worte zu fassen und begrifflich zu deuten, d.h. Lebensgewinn durch Tod plausibel zu machen, zeigt eine beachtliche Vielfalt von Deutungsmodellen. In der christlichen Traditionsgeschichte hat man versucht, diese Vielfalt begrifflich zu bündeln. Opfer, Sühne und Stellvertretung kristallisieren sich dabei als wichtigste Begriffe heraus, mit denen man die Heilsbedeutung des Todes Jesu zu beschreiben versucht hatte.
Anselm von Canterbury und die Satisfaktionstheorie
Zu beachten ist, dass wir es dabei keineswegs mit biblischen Begriffen zu tun haben, sondern mit sekundären Abstraktionen, die biblischen Entsprechungen sind facettenreicher. Die Genese dieser dogmatischen Traditionsbildung liegt dabei keineswegs in wünschenswerter Klarheit vor uns. Sehr viel später, nämlich rund 1000 Jahre, kommt ein weiterer Begriff hinzu, der die Todesdeutungen prägt. Anselm von Canterbury entfaltet seine folgenreiche Satisfaktionslehre. Der allein sündlose Christus nimmt den unschuldigen Tod auf sich und erwirbt damit vor Gott die verdienstvolle Genugtuung für die von der menschlichen Sünde entstandene Verletzung.
Von ihrer denkerischen Leistung ist Anselms Theologie des Todes Jesu in ihrer systematischen Geschlossenheit durchaus eindrücklich, gleichwohl entzündeten sich an ihr die heftigsten Kritikpunkte in der Moderne. Opfer, Sühne, Stellvertretung und Satisfaktion lieferten die maßgeblichen begrifflichen Bausteine, auf denen in je ganz unterschiedlicher Akzentsetzung die Theologie des Todes Jesu aufgebaut wurde. Hinter jedem dieser Begriffe verbirgt sich eine ganz eigene Deutungsleistung. Als gemeinsamen Grundzug könnte man herausarbeiten: Im Tode Christi geschieht etwas, was den Menschen Heil bringt. Die Frage ist dann, ob das, was da geschieht, als ein Opfer, als eine Sühneleistung, als eine Genugtuung oder als eine Stellvertretung zu verstehen ist.
Acht Thesen zur gegenwärtigen "Theologie des Kreuzes"
1. Im Tod Jesu erschließt sich Erlösung für den Menschen, aber keineswegs nur in seinem Tod. Die Deutungen seines Todes sind einerseits überhaupt nur von der Auferstehung her zu verstehen, zudem kennt das Neue Testament andererseits eine Reihe anderer Beschreibungen künftiger Erlösung. Die Erlösung des Menschen ist nicht allein und nicht ausschließlich an das Kreuz gebunden. Dies wäre eine Vereinseitigung und eine kreuzestheologische Überfrachtung christlicher Erlösungshoffnung.
2. Ebenso einseitig wäre es, die Deutungen des Todes Jesu auf einen Begriff zurückzuführen. Wenn ich recht sehe, entlarven die neueren Arbeiten dieses Unterfangen als Irrweg. Es greift zu kurz, Jesu Tod allein als stellvertretendes Sühnopfer zu begreifen. Die biblischen Texte sagen hier sehr viel mehr.
Sühnopfer und Stellvertretung?
3. Man wird dem Erbe der christlichen Tradition nicht gerecht, wenn man die Begriffe Sühne, Opfer und Stellvertretung einfach verabschiedet, und man wird den vielfältigen Erfahrungsbezügen der Christen nicht gerecht, wenn man die Bedeutung des Kreuzes allein auf diese Begriffe reduziert. Interessanter und theologisch angemessener erscheint es mir auszuloten, welche Erfahrungsbezüge sich hinter diesen Begriffen ermitteln lassen.
4. Die Vertreter der Sühnopfer-Theologie wehren sich zu Recht gegen den Vorwurf, sie würden im Grunde das alte Satisfaktionsmodell beerben. Vielmehr machen sie geltend, dass Gott stets das Subjekt im Sühnegeschehen ist. Gott handelt in seinem Sohn, um die Menschen mit sich zu versöhnen. Aus der etwas kruden Satisfaktionsvorstellung eines Gottes, der nach Genugtuung hungert, wird ein Gott, der – und seien sie von ihm selbst gewährt – auf Sühneleistungen angewiesen ist. Zudem bleibt in diesem Modell der Opfergedanken in der Art erhalten, dass es letztlich Gott selbst ist, der seinen Sohn opfert. Die Sühnekategorie kommt offensichtlich nicht ohne massive mythische Bestände aus. Es geht – so könnte man im Anschluss an Rudolf Bultmann formulieren – darum, die Traditionsbestände zu entmythologisieren und d.h. nichts anderes, als sie existential zu interpretieren. Was ist die existentiale Grundlage der christlichen Deutungen des Todes Jesu?
Lebenshingabe: Das Kreuz als Erfahrung des Heiligen
5. Wir können als einen Minimalkonsens festhalten: Die ersten Christen interpretierten im Rückblick den Tod Jesu als einen Lebensgewinn. Sie haben den Tod Jesu und seine Überwindung als etwas erfahren, dem erlösende Kraft zukommt. In vielfältigen Ausdrucksformen ringen sie darum, diese erlösende Kraft zu deuten. Darauf hat – um jetzt noch einmal den anderen großen Marburger zu Ehren kommen zu lassen – Rudolf Otto eindrücklich in seinem Buch "Das Heilige" hingewiesen. Alle sprachlichen Ausdrucksformen in der Deutung des Todes Jesu umkreisen etwas an sich Unsagbares, deuten es an. Die entsprechenden Vorstellungsgehalte sind geboren aus "dem Erfahren sündiger Menschen heraus […], die an der heilig-schuldlosen Hingabe ihres Meisters sühnende, von Unreinheit waschende, von der Last der Schuld erlösende, von geistiger Krankheit heilende, von Irrtum und Eigenwille befreiende Kraft erfuhren und denen dadurch das unnahbar-transcendente Numen zu einem Gotte […] des rettenden Bundes geworden ist".
6. Otto hat darin eine Vielzahl von Motiven angesprochen, deren Explikation es uns erlaubt, das Kreuzesgeschehen in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Aus den Deutungsleistungen von Menschen wissen wir, dass die Erfahrung des Heiligen als eine Kontrasterfahrung zu begreifen ist, in der sich an sich unfassbare Gegensätze vereinen. Der Wirklichkeit kommt etwas an sich Widersinniges zu. Alles Leben vollzieht sich immer auch auf Kosten von Leben. Die Wahrung und Selbstbehauptung eigener Interessen ist eine vernünftige und nötige Strategie der Lebenserhaltung. Jesu gewaltsamen Tod am Kreuz erleben die ersten Christen als wundersame Durchbrechung dieses Lebenskampfes. Der Verzicht auf Lebensdurchsetzung führt unweigerlich zum Tod, er unterbricht den Kreislauf der Selbstbehauptung.
Nach den Gesetzen der Welt müsste dies als totales Scheitern aufzufassen sein – und doch, die ersten Christen erleben durch die Auferstehung im Kreuz das Aufleuchten einer anderen Dimension der Wirklichkeit, in der die Gesetze des Kampfes und der Kreislauf unaufgebbarer Selbstdurchsetzung erlöschen, aufhören, zur Ruhe kommen. Paradox daran ist, dass dieses erlösende Licht durch den Tod hindurch scheint. Sühne würde dann heißen: es wird etwas gut, wo eigentlich gar nichts gut werden kann und Stellvertretung wäre ein Motiv, demzufolge zwischen allem Leben eine enge Verbundenheit besteht, so dass ein Leben für das andere eintreten kann. In der Tat ist dies als eine Umwertung aller menschlichen Werte zu bezeichnen.
Bultmann: "... sich mit Christus kreuzigen lassen"
7. Das Wort Kreuz ist damit der Ausdruck einer Heiligkeitserfahrung, in der dem Menschen an sich Unfassbares nahbar wird. Bei Rudolf Bultmann heißt es dazu: "An das Kreuz Christi glauben, heißt nicht, auf einen mythischen Vorgang blicken, der sich außerhalb unser und unserer Welt vollzogen hat, auf ein objektiv anschaubares Ereignis, das Gott als uns zu Gute geschehen anrechnet; sondern an das Kreuz glauben, heißt, das Kreuz Christi als das eigene übernehmen, heißt, sich mit Christus kreuzigen lassen".
Das Wort Kreuz meint daher eine existentiale Haltung und eine Lebensdeutung, eine innere Gestimmtheit, die die dunkle, nachtvolle, Grauen erregende, Angst einflößende, unfassbare Seite der Welt und des Lebens nicht einfach wegredet, sondern durch sie hindurch den Ausblick auf eine andere Dimension des Lebens erfährt. Das Kreuz Christi bleibt in seiner Einmaligkeit ein uneinholbarer Vorgang, aber die daraus hervorgehende Deutung des Lebens gälte es an den vielen kleinen Kreuzeserfahrungen des Alltags plausibel zu machen.
8. Von daher erscheint es mir auch höchst sinnvoll, Abendmahl und Kreuz miteinander zu verbinden. Denn der Bezug auf Jesu Tod macht doch genau diese Spannung so eindrücklich deutlich. Es verbindet sowohl die unmenschliche Tatsache, dass Leben auf Kosten anderen menschlichen Lebens lebt, als auch die Verheißung, dass Leben durch Teilung der Lebensmittel, durch gemeinsames Essen und Trinken, möglich ist.
Jörg Lauster ist Professor für Systematische Theologie an der Philipps-Universität Marburg.
Dieer Artikel ist eine gekürzte Version seines Aufsatzes "Lebenshingabe. Systematisch-theologische Anmerkungen zur religiösen Bedeutung des Todes Jesu Christi", erschienen in einer Handreichung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau anlässlich ihrer Kampagne zum Karfreitag.