Die letzte Reise: "Wo sie hingehen, haben sie es gut"
Es war ein schöner Morgen, als Friedegard Zieglers Mutter starb. Der Himmel tat sich auf - eine Erfahrung mit einer göttlichen Welt, sagt sie. Heute ist sie ehrenamtliche Sterbebegleiterin, kümmert sich um Ängste und Alltag im Angesicht des Todes.
02.04.2012
Von Sebastian Stoll

Wenn es langsam ernst wird, dann redet Friedegard Ziegler mit den Angehörigen über Milka-Herzen. Sie rät ihnen, eine Schachtel davon zu besorgen und die Schokolade gleich zu essen - die ist an der ganzen Packung nämlich das unwichtigste. "Es geht um die Schablonen, in denen die Herzen eingefasst sind. Darin kann man Wasser in kleinen Portionen einfrieren, vielleicht auch Bier oder Wein." Später wird ein Mensch das gefrorene Wasser, das Bier oder den Wein lutschen und die kleinen Herzen werden ihm helfen. Später, wenn es ans Sterben geht. "Ein Sterbender kann nicht trinken, denn er hat Probleme mit dem Schlucken", sagt Friedegard Ziegler.

Bild links: Friedegard Ziegler. Foto: epd-bild/Winfried Rothermel

Das Sterben bringt ganz profane Probleme mit sich, für die pragmatische Lösungen gefragt sind. Friedegard Ziegler, 63 Jahre, ist für beides da: Die große Angst und das kleine Ärgernis. Sie arbeitet als ehrenamtliche Sterbebegleiterin beim Hospizdienst Hochrhein.

Etwa 100 Menschen begleiten die Mitarbeiter der überkonfessionellen Einrichtung in Südbaden jedes Jahr auf ihrem Weg in den Tod. Manche begeben sich nur wenige Wochen in die Betreuung von Ziegler und ihren gut 50 Kollegen - bei anderen dauert der letzte Lebensabschnitt ein Jahr oder länger.

Ängste und Sorgen

Los geht es immer mit einem Anruf: Ein Mensch hat eine Diagnose bekommen und weiß, dass er sterben wird. "Ich gehe dann hin und lerne den Kranken kennen. Für mich ist ganz wichtig, dass die Chemie stimmt", sagt Friedegard Ziegler. Versteht man sich, besucht sie den Kranken von nun an regelmäßig.

Manchmal sind es die großen Themen, über die Friedegard Ziegler mit dem Patienten spricht, die Angst vor dem Tod und die Sorge um die zurückbleibenden Kinder oder den Ehepartner. Ganz oft steht aber auch das Alltägliche im Mittelpunkt - gerade weil im Leben der Todkranken sonst oft nichts mehr alltäglich ist. "Ich hatte einmal eine Patientin, die mir als erstes immer einen Kaffee serviert hat. Das war ganz wichtig für sie, etwas selbst tun zu können - gerade, weil ihre Angehörigen ihr nichts mehr zumuten wollten."

[listbox:title=Mehr im Netz[Textsammlung der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema "Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe]]

Genauso wie die Kranken leiden auch die Angehörigen unter Ängsten. Allerdings sind es andere Sorgen, die sie plagen - und daraus entstehen oft Konflikte. Denn während einem Angehörigen der Verlust eines lieben Menschen oft erst im Nachhinein richtig bewusst wird, hat der Sterbende die Möglichkeit der Retrospektive nicht. Er muss früher abschließen, sagt Ziegler. Und so kommt es zu Situationen, in denen die kranke Frau den Schlauch, der sie mit Sauerstoff versorgt, entfernen will - und der Partner das nicht zulässt: "Das liegt an den unterschiedlichen Phasen, in denen die beiden sind. Sie sagt: 'Ich kann nicht mehr' und er: 'Bleib doch noch ein bisschen.'"

Die Sterbenden fangen an, in Bildern zu sprechen

Seit fünf Jahren arbeitet Ziegler als Sterbebegleiterin. Die ehemalige Sozialarbeiterin engagiert sich, weil sie nach dem Ende ihres Arbeitsverhältnisses nicht einfach in Rente gehen wollte - und weil sie schon früh im Leben mit dem Tod in Kontakt kam. Ihr Bruder starb mit acht Jahren, Friedegard Ziegler war damals gerade mal elf. Jahre später begleitete sie ihre Mutter am Krankenbett bis in den Tod. Sie starb an einem schönen Morgen, an dem sich der Himmel auftat. Hinterher öffnete Friedegard Ziegler als erstes ein Fenster. "Das war für mich eine Erfahrung mit einer göttlichen Welt."

Nur selten ist Friedegard Ziegler im Moment des Sterbens dabei. Sie nimmt sich dann zurück und lässt den Sterbenden mit sich oder den Angehörigen allein. Dass es bald so weit ist, merkt sie, wenn die Kranken anfangen, in Bildern zu sprechen. "Wie die Leute gelebt und geglaubt haben, mit diesen Bildern werden sie auch sterben", sagt sie. "Ich sehe ein Schiff mit Verwandten auf dem Rhein. Ich gehe da jetzt rauf", sagte eine Sterbende einmal, "Gott segne dieses Haus" ein Mann. "Meine eigene Schwiegermutter sagte: 'Ich gehe in den Wald.' Jeder hat sein eigenes Bild für das, was passiert." Friedegard Ziegler lässt die Menschen gehen, im Bewusstsein: Wo sie hingehen, haben sie es gut.

epd