Zum 100. Todestag: Karl Mays spirituelle Innenwelt
Fällt der Name "Karl May", denken die meisten an den wilden Westen, an Winnetou und Old Shatterhand. Der Dichter, der am 30. März vor genau 100 Jahren gestorben ist, wird oft klischeehaft wahrgenommen. Nur einem Teil seiner Leser ist bewusst, dass er Christ war. Professor Werner Thiede hat das spirituelle Innenleben des Autors untersucht.
28.03.2012
Von Werner Thiede

Bereits im ersten Band der Gesammelten Werke ist die Rede von "dem tief im Herzen wurzelnden Gottesglauben", der sich dessen zu erinnern weiß, "der in dem Schwachen mächtig ist". Das hier zitierte Bibelwort aus 2. Kor. 12,9 dürfte für den Schriftsteller und Dichter persönlich von Bedeutung gewesen sein. War er nicht in seiner ganzen, von früher Armut, Schicksalsschlägen und Gefängnisaufenthalten belasteten Existenz ein Schwacher, dem der Gottesglaube wieder aufgeholfen hatte? "Ich bin dem Heilande nachgegangen und habe den Frieden des Herzens gefunden", bekennt der Romancier als Old Shatterhand rückblickend.

Tatsächlich war er schon von äußerer Gestalt ein eher kleinwüchsiger Mensch gewesen, dessen Stärke sich primär seinem Innenleben verdankte. Wer heutzutage an Mays Alter Ego namens "Old Shatterhand" und an seinen erfundenen Blutsbruder Winnetou denkt, hat gewöhnlich die eindrucksvollen Kino-Gestalten von Lex Barker und Pierre Brice vor Augen. Doch May selber gab hinsichtlich seines Aussehens eine ganz andere, erstaunlich ehrliche Auskunft. In seinem ersten speziell für die Jugend verfassten Roman "Der Sohn des Bärenjägers" (1887) beschrieb er sich in der dritten Person mit den Worten: "Er war von nicht sehr hoher und nicht sehr breiter Gestalt." Winnetou soll sogar "noch schmächtiger" gewesen sein.

Dem Gedanken, dass der Geist weit höheren Wert habe als Körperstärke, kommt in etlichen Romanen Mays Bedeutung zu. Es sind bei ihm weniger die äußeren Kraft-Erweise, die zum jeweiligen Sieg oder zur Befreiung führen, als vielmehr Intelligenz und eine manchmal geradezu weise anmutende Planung mit dem christlichen Motiv möglichster Gewaltvermeidung. Wer Karl Mays Ich-Figuren als strotzende Supermänner hinstellt, folgt einem zu einfachen Klischee. Gewiss trägt das Erzähl-Ich Mays oft heldenhafte Züge, aber die betreffenden Figuren bleiben doch menschlich, und es werden keineswegs immer fehlerfreie Perfektionisten geschildert. So manches Mal sind es nicht nur Fehler seiner Kameraden, sondern auch eigene Irrtümer oder Fehleinschätzungen, die im Handlungsfortgang zu Gefangenschaft oder anderen Nachteilen führen. May selbst war natürlich nicht fehlerfrei; so zählte etwa das Flunkern zu seinen Schwächen.

"Dürfte ich ein Pionier des Christentums sein!"

Schon als ganz junger Schriftsteller hatte May "Geographische Predigten" (1875/76) veröffentlicht. In ihnen bemerkte er: "Die Heimat, die da droben unsrer wartet, zieht unser bestes und schärfstes Denken himmelwärts und nimmt unser Fühlen und Wollen gefangen in einer Sehnsucht, die – den meisten unbewusst – sich wie ein Faden durch unser ganzes Leben zieht." Dass May hier auch eine Aussage über sich selbst machte, liegt auf der Hand. Noch im Umbruch zu seiner symbolischen Spätphase erklärte er: "Wer die "Geographischen Predigten" nicht gelesen hat, ist vollständig unfähig, meine Voraussetzungen und Ziele zu kennen, meine Art und Weise zu begreifen, mein Denken und Wollen zu verstehen …".

In der frühen Erzählung "Im "Wilden Westen" Nordamerikas" (1883) bekannte sich May zu der Überzeugung: "Ein jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes, der die Liebe ist; alle Gesetze menschlicher Entwicklung sollen sich auf das eine, große Gesetz der Liebe gründen, damit das Ebenbild des großen göttlichen Meisters nicht beleidigt, beschimpft oder entweiht werde." Ungefähr zur gleichen Zeit schrieb er in seinem großen Orient-Reiseroman: "Der Gottesfunken ist im Menschen niemals vollständig zu ersticken, und selbst der Wildeste achtet den Fremden, wenn er sich selbst von diesem geachtet sieht. Ausnahmen gibt es überall. Wer Liebe sät, der wird Liebe ernten, bei den Eskimos wie bei den Papuas … Dürfte ich doch ein Pionier der Zivilisation, des Christentums sein!" Diese Haltung zieht sich gut erkennbar fast durch sein gesamtes Werk.

Bild links: Ein Buch von Karl May in der Villa Shatterhand, dem heutigen Karl-May-Museum, in Radebeul bei Dresden. Foto: epd-bild/Matthias Rietschel

Karl May hat die Menschen zweifellos gerade kraft der warmherzigen Innerlichkeit seiner Werke angesprochen. Sie lässt sich besonders gut an dem Roman "Weihnacht!" ablesen, den er auf dem Höhepunkt seines Erfolgs schrieb. Hier zitiert er des Öfteren aus einem in jungen Jahren verfassten Gedicht, in dem es heißt: "Selig, wer aus Herzensgrunde / nach der Lebensquelle strebt / und noch in der letzten Stunde / seinen Blick zum Himmel hebt!" Im bald darauf folgenden Roman "Am Jenseits" (1899), der bereits zum symbolreicheren Alterswerk überleitet, zeigt sich die transzendente Ausrichtung im Denken Mays noch deutlicher. Der geplante Fortsetzungsband "Im Jenseits" wurde bezeichnenderweise nie geschrieben, die himmlische Wirklichkeit also feinsinnig offengelassen: "So ergeht es uns mit dem Jenseits. Die Bilder, welche wir uns von ihm machen, sind falsch, aber es existiert." Für May war der Tod "der Bote Gottes, der uns nur naht, um uns empor zu führen zu jenen lichten Höhen, von denen der Erlöser seinen Jüngern sagte: "In dem Hause meines Vaters sind viele Wohnungen, und ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten."

"Ich halte Herrn May für einen Dichter!"

Dass Mays mystische Ader erst im Laufe seines Lebens zunehmend hervorgetreten war, ist aus entwicklungspsychologischer Perspektive gewiss nichts Ungewöhnliches. "Hast du schon bemerkt, dass die Hoffnung auf die Ewigkeit sich nach zwei Richtungen bewegt? Je höher sie steigt, umso tiefer senkt sie sich auch endlich hinein." Im Tagebuch seiner Orientreise notierte er: "Wie dies All sich nach außen dehnt, erweitert und verherrlicht, so vertieft und vervollständigt sich auch das All im Innern des Menschen." Seine reiche Fantasie korrespondierte einer wachsenden Spiritualität.
Aus der mystisch durchwehten Spätphase seines Schaffens stammt der Roman "Und Friede auf Erden" (1901/1904), dessen Titel ein Bibelzitat darstellt. Eine innere Verwandtschaft der Religionen wird hier betont, allerdings von der Warte christlichen Glaubens aus:

"Tragt euer Evangelium hinaus,
doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden!
Und seht ihr irgendwo ein Gotteshaus,
so stehe es für euch im Völkerfrieden.
Gebt, was ihr bringt, doch bringt nur Liebe mit,
das andre alles sei daheim geblieben!
Grad weil sie einst für euch den Tod erlitt,
will sie durch euch nun ewig weiter lieben."

Das mystische Element bei Karl May ließ zweifelsohne seinen Sinn für die Notwendigkeit dessen wachsen, was heutzutage als interreligiöser Dialog bezeichnet wird. Schon in seinem großen Orientroman konnte er als Kara Ben Nemsi bei der Beerdigung eines Freundes ohne weiteres eine einschlägige Sure aus dem Koran beten und dazu vermerken: "Es war ein seltenes Begräbnis. Ein Christ, zwei Sunniten und ein Schiite hatten über dem Grab des Toten gesprochen, ohne dass Mohammed einen Blitz herniederfallen ließ." Betont trat der interreligiöse Gedanke namentlich in dem erwähnten Roman "Und Friede auf Erden" hervor. Hier ließ May einen zu Christus Betenden dichtend formulieren: "O du, der selbst den Schächer nicht verwarf, den Mörder, der an deiner Seite hing, wo ist ein Mensch, von dem ich sagen darf, er sei für deinen Himmel zu gering?" Und als Erzähler fügte er hinzu: "Nie waren mir Menschenworte so tief wie diese in das Herz gedrungen."

"Ich lebe in einer eigenen Welt"

Wenn ein Schriftsteller nicht nur Witz und Comedy, übrigens häufig auch Sprachwitz, sondern immer wieder echten Humor in seine spannenden Romane einzubauen weiß, dann hat dies mit der Tiefe seiner Herzenswärme zu tun. In diesem Sinne konnte er sich augenzwinkernd einen Zettel ans Fenster heften, auf dem die mahnenden Worte prangten: "Nicht predigen!" Er wusste sehr wohl, dass seine Romane oft auf ganz eigene, doppelsinnige Weise "geographische Predigten" darstellten. Den späten, nämlich vorletzten Roman "Ardistan und Dschinnistan" (1907) bezeichnet der katholische Theologe Hermann Wohlgschaft als "mystische Prophetie, als christozentrische Dichtung".

Begeisterung riefen die späten Werke freilich wenig hervor. Insbesondere mit seinem Bühnen-Drama "Babel und Bibel" und mit seinen Gedichten und Aphorismen, unter dem Titel "Himmelsgedanken" (1900) erschienen, hatte May keinen Erfolg. Der Dichter wusste: "Doch bleibt dem menschlichen Verstand / Die Gottesbotschaft unbekannt, / Weil er das, was er denkt und dichtet, / Nach außen, nicht nach innen richtet." Ein anderes Gedicht illustriert, wie ihn in allem Schmerz sein christlicher Glaube aufrecht hielt: "Ich bin in Gottes Hand, wo ich auch geh und steh; / Seit meinem ersten Tag bin ich geborgen. / Er kennt mein Herz mit allem seinem Weh, / Mit seinen großen, seinen kleinen Sorgen." In mystischer Weisheit konnte May von daher raten: "Du machst täglich einen Spaziergang, um die Gesundheit deines Leibes durch frische Luft zu stärken. Wie oft verlässest du wohl den Ort der irdischen Sorgen, um deine Seele Himmelsluft athmen zu lassen?"

In einem Brief an Prinzessin Wiltrud von Bayern schrieb der Greis 1909: "Ich möchte der Menschheit meinen Glauben geben, meine Liebe, meine Zuversicht, mein Licht, meine Wärme, meinen – – – Gott!" Hundert Jahre nach seinem Tod gilt für seine Leserschaft immer noch, was der letzte Großmystiker der deutschen Literatur im Vorausblick auf seinen Tod dichterisch formuliert hatte: "Wenn ich euch auch verlassen habe, so bleibt euch meine Seele doch."


Prof. Dr. theol. habil. Werner Thiede ist Pfarrer der ELKB und seit 2007 apl. Prof. für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählt "Mystik im Christentum. 30 Beispiele, wie Menschen Gott begegnet sind" (2009).

Dieser Beitrag über die Spiritualität Karl Mays ist ein gekürzter Aufsatz aus dem Deutschen Pfarrerblatt 3/2012.