Sanft streicht der Wind durch die hellgrünen Blätter der Büsche auf den Feldern der Familie von Mutaab al-Dschandubi. Eine Tochter des jemenitischen Bauern spielt vor dem Haus der Familie in Arhab, 30 Kilometer nördlich der Hauptstadt Sanaa. An einer Schnur zieht das kleine barfüßige Mädchen mit dem weißen Kopftuch einen halbierten blauen Benzinkanister hinter sich her. Von den Granaten, die jeweils im Abstand von etwa fünf Minuten in etwa zwei Kilometer Entfernung mit dumpfem Dröhnen einschlagen, nimmt sie kaum Notiz.
Zeit spielt bei uralten Traditionen keine Rolle
Sie und ihre Geschwister haben sich an den Kriegslärm gewöhnt, der in diesem ländlichen Bezirk seit dem vergangenen Frühjahr ständig zu hören ist. Im Sommer 2011 wurde das Haus ihrer Familie von mehreren Geschossen getroffen. An der südlichen Fassade des dreistöckigen Gebäudes der Großfamilie klaffen bis heute mehrere große Löcher. In einem Krater vor dem Haus liegt eine Granate, die nicht explodiert ist. Die Familie wohnt an einer vergessenen Front, die seit der Revolution zum Sturz von Langzeitpräsident Ali Abdullah Salih im vergangenen Jahr nicht zur Ruhe gekommen ist.
Das von Granateinschlägen schwer beschädigte Haus der Familie Al-Dschandubi in Arhab. Foto: dpa/Anne-Beatrice Clasmann
"Als die Soldaten im vergangenen Frühjahr in Sanaa anfingen, auf die Revolutionäre zu schießen, haben einige von uns die Zufahrten zu den beiden Stützpunkte der Republikanischen Garde hier in Arhab blockiert", erzählt Al-Dschandubi, "denn wir wollten nicht, dass sie ausrücken nach Sanaa, um Demonstranten zu töten". An das genaue Datum dieser ersten Protestaktion in Arhab erinnert er sich nicht. Auch wann sein Haus beschossen und einer seiner Verwandten schwer verletzt wurde, kann er nicht mit Bestimmtheit sagen. Denn Zeit spielt in seinem Leben, das von uralten Traditionen bestimmt wird, keine Rolle. "Ich weiß noch, die Granaten kamen kurz vor Beginn des (islamischen Fastenmonats) Ramadan", sagt er nach kurzem Zögern und zeigt auf zwei große Löcher in der Außenwand eines Empfangszimmers für Gäste.
Rache für getötete Stammesangehörige
Von Politik versteht Al-Dschandubi nicht viel. Seine Familie lebt unterhalb des Militärstützpunktes Al-Samaa. Ihren Unterhalt bestreitet sie mit dem Anbau der Kaudroge Kat, die jeden Nachmittag Millionen von Jemeniten in einen sanften Rausch versetzt. Das Kat von den Feldern in Arhab ist besonders begehrt und teuer.
Zum Ehrenkodex der Stämme von Arhab, der ihnen auch vorschreibt, Gäste mit Freudenschüssen zu begrüßen, gerhört auch die Rache für getötete Stammesangehörige. Deshalb haben die Kämpfe in dem Bezirk bis heute nicht aufgehört. Sie hatten begonnen, als die Republikanische Garde am 25. Mai 2011 an einer Straßensperre vier Stammesangehörige tötete. Und sie gingen auch dann weiter, als sich die politischen Gruppierungen in Sanaa Ende 2011 auf einen Fahrplan für einen friedlichen Machtwechsel einigten.
"Sie beschießen schon wieder die Revolutionäre"
Im Dezember wurde eine Regierung der nationalen Einheit gebildet, im Februar bestimmten die Wähler in einer Art Referendum den früheren Vize Salihs, Abed Rabbo Mansur Hadi, zum Übergangspräsidenten. Doch die Granaten regnen weiter von den beiden Stützpunkten Al-Samaa und Al-Freidscha auf die Häuser und Felder des Bezirks.
"Sie beschießen schon wieder die Revolutionäre", sagt Al-Dschandubi. An diesem kühlen Märztag ist kein Schusswechsel zu hören. Nur der Lärm der Granaten und das Rascheln der dünnen Plastiktüten, die der Wind zwischen den weit voneinander entfernt liegenden Häusern über die grüne Ebene treibt, stören die Stille des ländlichen Idylls. Zwischen Mai 2011 und Januar 2012 sollen im Bezirk Arhab nach Angaben von Menschenrechtlern 151 bewaffnete Stammesangehörige sowie Frauen und Kinder getötet worden sein.
Die Regierung in Sanaa hat den Konflikt in Arhab ausgeblendet. Sie konzentriert sich aktuell auf die Versöhnung mit den südlichen Separatisten und den schiitischen Houthi-Rebellen sowie auf den Kampf gegen Al-Kaida-Terroristen. Außerdem ist der Kommandeur der in Arhab stationierten Republikanischen Garde, Ahmed Salih, ein Sohn von Ex-Präsident Salih. Und an ihn wagt sich bislang niemand heran. Der bewaffnete Konflikt in Arhab sei beendet, erklärt Verteidigungsminister Mohammed Nasser Ali.