Eine böse Königin, eine unschuldige Prinzessin, ein edler Ritter und sieben Zwerge, das sind im Wesentlichen die Zutaten eines berühmten Märchens, das schon zahllose Male verfilmt wurde. Nun setzt der Inder Tarsem Singh mit einer gekonnt aberwitzigen Neuinterpretation dagegen, mit einem Action-Realfilm, in dem es um mehr geht als verletzte Eitelkeit und ewige Liebe – es kommt das soziale Gewissen ins Spiel, eine verwöhnte Prinzessin teilt emanzipatorische Befreiungsschläge aus, und die böse Königin wird ausgerechnet von Julia Roberts gespielt. Das oft arg schwülstig anmutende Kunstwollen früherer Filme von Tarsem Singh ("The Fall", "Krieg der Götter") löst sich in "Spieglein Spieglein" perfekt im symbolträchtigen Prunk opulenter Märchenwelten auf, in einer Orgie der Farben und Formen in Ausstattung und Kostümen.
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"Es war einmal – ein König und seine geliebte Königin, die bekamen eine Tochter, der sie den ausgefallensten Namen gaben, der ihnen einfallen konnte: Schneewittchen." Voller Geringschätzung lässt sich Julia Roberts die geschliffen bösen Worte auf der Zunge zergehen, wenn sie diese Geschichte erzählt. Mit einem verächtlichen Schulterzucken und einer wegwerfenden Handbewegung verbindet sie den Geist des Schulhofzickenkriegs mit der Größe einer Königin – nur einer von vielen irrwitzigen Widersprüchen, die hier aufeinander prallen.
Aus der drollig bunten Zwergenschar wird da kurzerhand eine düstere Bande von Räubern, die ganz in Schwarz und auf riesigen Ziehharmonikastelzen die verschneiten Wälder malerisch unsicher machen, aus Rache dafür, dass sie einst wegen ihrer Kleinwüchsigkeit von den Dorfbewohnern zum Gespött gemacht wurden. Alle, die sonst in den Märchen schwach und hilflos auf magischen Beistand warten, nehmen ihr Schicksal hier beherzt selbst in die Hand. So zettelt die verstoßene Prinzessin unter den Dorfbewohnern, denen die Königin immer höhere Steuern abpresst, um ihr Luxusleben zu finanzieren, kurzerhand eine Revolution an. Nach Jahren der ermüdenden Lektüre über verschreckte Prinzessinnen, die von edlen Rittern gerettet wurden, sperrt Schneewittchen den jungen Prinzen und die Zwerge kurzerhand in ihre Holzhütte, um dem Monster selbst entgegenzutreten. Und das Monster wirkt wie eine Kreuzung aus dem Wolf aus »Rotkäppchen«, dem Biest aus "Die Schöne und das Biest" und einem überaus wendig animierten Märchendrachen.
Ein bizarres Schloss inmitten einer Märchenlandschaft
Eine echte Augenweide sind die ebenso opulenten wie hochdramatischen Kostüme der im Januar verstorbenen Kostümbildnerin Eiko Ishioka, die für "Bram Stoker’s Dracula" einen Oscar bekam und bisher alle Filme von Tarsem Singh mit ihrem exzentrischen Stil geprägt hat. Mit flatternden Spitzenstehkrägen und ausladenden Schuppenröcken, mit Gefieder und Stickereien, monströsen Krägen und aufgebauschten Puffärmeln zieht sie hier noch ein letztes Mal alle Register ihrer Kunst, die sie unter anderem auch bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Peking ausübte.
Eingebettet sind diese bisweilen schrill bunten und immer ausladenden Kreationen in malerische Szenerien, die künstliche Computerschöpfungen mit den realen Inszenierungen der Natur verschmelzen. Unter einem endlosen Horizont voll dramatischer Wolkenformationen breitet sich eine Märchenlandschaft aus, mit einem bizarren Schloss auf einer schwindelerregend schmalen Felsklippe. Zwischen den langen, schmalen Stämmen eines Birkenwaldes bilden die schwarzen Stelzenzwerge einen schönen Kontrast zum weißen Zuckerschnee. Am Ende ist der vergiftete rote Apfel nicht mehr als eine Fußnote, und alle Welt stimmt ein in ein grandioses Bollywood-Finale.
USA 2012. R: Tarsem Singh. B: Melissa Wallack, Jason Keller. Mit: Julia Roberts, Lily Collins, Armie Hammer, Sean Bean, Nathan Lane. L: 106 Min.