Fliege: "Die Kirche steht da wie der Ochs vorm Berg"
Der TV-Moderator und evangelische Theologe Jürgen Fliege liegt nach wie vor mit seiner Kirche über Kreuz. Diese "labert Gott die Ohren voll", beklagt er kurz vor seinem 65. Geburtstag. Austreten wolle er dennoch nicht: "Einmal Pfarrer, immer Pfarrer."
23.03.2012
Die Fragen stellten Christiane Ried und Stephan Cezanne

Herr Fliege, Sie sind evangelischer Pfarrer, TV-Moderator, Kirchenkritiker und beschäftigen sich mit alternativen Heilweisen. Wo ist der rote Faden in Ihrer Biografie?

Jürgen Fliege: Ich wollte immer ein Jesus-Mann sein, ein Bruder. Ich bin in einer Kirche aufgewachsen, die mir nicht fromm genug und geschwisterlich genug ist, und die all meine Reformversuche vom ersten Tag an nicht mochte.

Außerdem hasse ich Hierarchien, vor allem, wenn sie auf Macht begründet sind. Ich kann Menschen nicht danach beurteilen, ob sie mir unterstellt oder überstellt sind und sortiere sie auch nicht danach, ob sie kirchlich sind oder nicht. Religion ist Heimat und nicht Wahrheit.

Und dann empfinde ich mich in der pietistischen Tradition als Beter. Ich lehre Menschen, wie Beten geht. Die Kirche betet nicht wie Jesus. Sie nimmt seinen Kurs nicht zur Kenntnis. Sie labert Gott die Ohren voll.

Neben Bundespräsident Gauck sind Sie der bekannteste Pfarrer Deutschlands. Was war der Auslöser für Ihre bemerkenswerte Karriere?

Fliege: Der Impuls ging nicht von mir aus, der Impuls ging von der Kirche aus. Der frühere rheinische Präses Peter Beier (1934-1996, d. Red) hat mir mal gesagt, du gehst in die Medien, dann bist du ein Fallschirmspringer hinter den Linien. Allerdings denkt man doch, als Fallschirmspringer haut dich die Armee raus, hauen dich deine eigenen Leute raus.

"Ein Austritt

kommt für mich

nicht in Frage"

 

Sie fühlen sich von der Kirche im Stich gelassen?

Fliege: Ja, die waren froh, dass ich da abgesprungen bin und nicht mehr bei ihnen war. Das ist meine Erfahrung. Wenn ich im Fernsehen Konflikte hatte, ist die Kirche immer bei den andern aufs Trittbrett gesprungen, es gab keine "Solidaritätserklärung Fliege", keine! Und es gab alle drei Jahre einen Skandal.

Aber Ihre Liebe zur Kirche selbst ist noch da?

Fliege: Die Liebe zur Kirche ist die Liebe zur Mutter, der man das Leben verdankt. Aber mit der man auch zeitlebens einige Kämpfe auszufechten hat. Der Kirche verdanke ich meine pfarramtliche Existenz. Aber je verschrobener sie wird, umso mehr wende ich mich ab.

Der katholische Theologe Eugen Drewermann hat sich zu seinem 65. Geburtstag nach seinen eigenen Worten das "Geschenk der Freiheit" gemacht und ist aus seiner Kirche ausgetreten. Wäre das auch für Sie eine Option?

Fliege: Darüber denke ich oft nach. Aber ich merke, dass das für mich nicht infrage kommt. Es gab am Anfang der ARD-Karriere die Frage, ob ich nicht aus dem Pfarrdienst ausscheiden soll. Da habe ich frei nach Heinrich Albertz gesagt: Nein, einmal Pfarrer, immer Pfarrer. Dieses Bekenntnis zu meiner Kirche hat mich sehr viel Kraft gekostet. Ich fühle mich wie der biblische Joseph. Der wurde mit einem bunten Mantel behängt, wirkte manchmal skurril und sagte: "Ich habe einen Traum gehabt." Dann haben aber meine Kollegen das Gefühl, ich wolle sie dominieren. Und dann wächst in ihnen der Wunsch, mich in eine Zisterne zu schmeißen, damit ich umkomme. Das tut die Kirche ja grade.

Was macht Kirche dann überhaupt noch richtig?

Fliege: Dass sie durchhält. Ich finde es gut, dass es Kirchen im Dorf und in der Stadt gibt. Ich finde es toll, dass ich da reingehen kann. Ich finde das Instrument der Gottesbegegnung und die Feier der Stille umwerfend und tränenrührend. Handwerklich sehe ich dagegen nicht viel. Aber ich weiß, dass wir ein Handwerkszeug haben, das die Kirche allerdings nicht nutzt und nicht lehrt - beispielsweise die freie Rede, die Stille, das Fasten, das Pilgern.

Das hört sich ernüchternd an.

Fliege: Wenn man im Radio eine christliche Sendung hört, weiß man sofort am Klang, dass das eine Kirchensendung ist - mit dem Impuls "Wegdrehen". Das sind Dinge, die mich schon als Junge gestört haben. Ich bin ziemlich resigniert, denn ich glaube, die Kirche weiß nicht, dass sie nicht funktioniert. Sie halten sich an ihrer Institution fest, denn sie wissen auch, dass eine Institution siegt. Ich werde untergehen mit meiner Kritik, aber doch nicht die Institution Kirche.

"Mit der 'Fliege-Essenz'

habe ich zweifelsohne

einen Fehler gemacht"

 

Sehen Sie sich als Märtyrer?

Fliege: Märtyrer ist falsch. Ich lass mich doch nicht für die Kirche kreuzigen, keine Sorge. Doch zu einer geistlichen Existenz gehört es, Wunden zu zeigen. Der liebe Gott hat mich durch ein merkwürdiges Tränental wandern lassen.

Gegen Sie läuft derzeit ein Disziplinarverfahren der rheinischen Landeskirche. Wie ist der neueste Stand?

Bild links: Jürgen Fliege. Foto: epd-bild/Michael McKee

Fliege: Mir ist es verboten, Einzelheiten zu sagen. Das Vorgehen meiner Kirche verletzt mich. Aber ich will ja nicht unterstellen, dass meine Kritik sie nicht verletzt. In der Presse habe ich gelesen, dass es um zwei Sachen geht: dass ich erstens einem jungen, unverheirateten Paar gesagt habe, "Gott und Kirche sind erstmal scheißegal". Die beiden sind übrigens aus guten Gründen aus der Kirche ausgetreten. Die Frau denkt, dass Gott ihr den krebskranken Vater genommen hat, der Bräutigam war ein reicher Yuppie und rechnet mir knallhart vor, was Kirche kostet. In solchen Gesprächen fallen immer wieder Sätze wie "Kirche ist doof", trotzdem war zu spüren, dass das Paar für seine Hochzeit auf der Suche nach Segen und Spiritualität war. Und da fasste ich zusammen: Jetzt lass mal euer Geschrei vom "scheiß Gott und diese scheiß Kirche sein". Warum wollt ihr, dass ich euch segne? Ich muss die Menschen erstmal wieder abholen.

Und der zweite Punkt?

Fliege: Zweitens wollte ich mit der "Fliege-Essenz" nie Weihwasser verkaufen. Da habe ich zweifelsohne einen Fehler gemacht in meiner Art und Weise zu provozieren. Aber ich habe dem Hersteller angeboten, das Zeugs zu segnen - es war ja nicht Wasser, sondern ein bewährtes Kräuterheilmittel.

War es ein Fehler, die Essenz für knapp 40 Euro pro Fläschchen zu verkaufen?

Fliege: Ja! In Deutschland ist das Zusammenspiel von Pfarrer und Geld nicht vermittelbar. Ich erlebe es immer wieder, wenn ich zum Beispiel Gottesdienste oder Beerdigungen für Prominente organisiere. So etwas findet ja nicht nur in Tutzing, sondern auch in Berlin oder Hamburg statt. Die Angehörigen fragen mich nie, was sie mir schuldig sind, seien es auch nur Fahrtkosten. Die Meinung ist: Kirche ist in jedem Fall umsonst. Diesen Impuls habe auch ich in mir. Ich traue mich nicht zu sagen, dass ich Geld koste. Ich mache das schamhaft umsonst, weil ich Menschen nicht vor den Kopf stoßen will.

"Kirche hat

in Deutschland

das Scharia-Recht"

 

Haben Sie bereits Nachteile durch das Disziplinarverfahren?

Fliege: Allerdings. Seitdem die Kirche gesagt hat, sie machen ein Verfahren gegen mich und ich in unzähligen Zeitungen als Scharlatan dargestellt werde, hatte der Fliege-Verlag in seinen unterschiedlichen Geschäftszweigen einen Einbruch von über 300.000 Euro, wahrscheinlich mehr. Da hätte ich eigentlich insolvent gehen müssen. Da kommen keine Anzeigen mehr rein, Fliege-TV musste ich auch einstellen. Ganz viele Vortragsreihen und Coachings sind gecancelt worden, weil die Leute niemanden wollen, der von der Kirche angegriffen wird.

Hat die Kirche tatsächlich heute noch so eine Macht?

Fliege: Kirche hat in Deutschland das Scharia-Recht. Als kirchlicher Mensch können Sie nicht machen, was Sie wollen, Sie können nicht heiraten, wen sie wollen. Sie können das alles nicht. Wenn die wollen, können die Ihnen ziemlich Druck machen.

Wollen Sie sich gegen das Disziplinarverfahren wehren?

Fliege: Das rät mir meine Anwältin, denn da war nichts, und da ist nichts. Deshalb habe ich dem rheinischen Präses Nikolaus Schneider gesagt: Lass uns diesen Streit begraben, es hat keinen Zweck. Schneider hat bislang darauf nicht reagiert.

Sie hatten ja schon Mitte der 90er Jahre wesentlich schärfere Kritik an der Kirche geübt. Warum kommt das Disziplinarverfahren erst jetzt?

Fliege: Da hatte ich Macht. Da hat sich die Kirche nicht getraut, gegen mich vorzugehen.

Verstehen Sie den Vorwurf, Sie hielten zu wenig Distanz zur Esoterik?

Fliege: Offenbar sind Millionen von Menschen auf der Suche nach Gott und Sinn. Wie kommt die Kirche darauf, Leute, die bei ihr keine Heimat gefunden haben, so zu diskriminieren? Ich sage nicht, dass sei alles richtig. Ich sage nur: Schaut euch die Menschen an, die bei uns nicht glücklich wurden. Der frühere Bundespräsident Johannes Rau hat einmal gesagt, die Sekten sind die Sünden der Kirche.

Liegt es also an der Engstirnigkeit der Kirchen, dass ihr die Mitglieder scharenweise davonlaufen?

Fliege: Da gibt es Tausende Untersuchungen dazu. Ich weiß es nicht. Welcher Mutter laufen denn die Kinder weg? Diejenigen offenbar, die ihre Liebe, ihre Fürsorge, ihre Glaubwürdigkeit nicht haben wahrnehmen können. Es sind ja in Deutschland 1.000 Austritte aus den großen Kirchen am Tag. Ich persönlich gehe nur noch selten in Gottesdienste, weil ich sie immer noch so entsetzlich finde wie als kleiner Junge. Ich sitze die oft ab wie ein Sechsjähriger.

"Der Grundsatz dabei lautet:

erst die Menschen liebhaben

und dann die Liturgie"

 

Braucht die Kirche Inspiration aus anderen Religionen?

Fliege: Ja. Paulus würde sagen: "Prüft alles und behaltet das Beste." Unsere Sektenbeauftragten prüfen alles und behalten gar nix. Irgendein Guru umarmt Menschen und trifft damit einen Nerv. Ich mache das auch in Gottesdiensten, und da geht die Post der großen Gefühle ab. Genau das müssen die Kirchenleute üben. Der Grundsatz dabei lautet: erst die Menschen liebhaben und dann die Liturgie. Das meine ich mit geschwisterlicher Kirche, da fühlen sich die Menschen verstanden. Und die Kirche steht da wie der Ochs vorm Berg.

Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus?

Fliege: Mein Ego ist relativ gestillt. Ich muss nicht unbedingt was an den Mann bringen. Außer 120.000 Euro pro Jahr aus der Fliegestiftung für zwölf sozial äußerst engagierte Geistliche aus allen Konfessionen. Fliege sucht den Superpfarrer! Wer einen Vorschlag hat, der sage ihn mir!

Sie werden am 30. März 65 Jahre alt. Sie wirken wesentlich jünger. Was hält Sie so fit? Haben Sie ein Geheimnis?

Fliege: Ich habe keine Ernährungsvorschläge, aber ich glaube, ich bin einfach ein kleiner Junge geblieben. Ich weine, wenn es zu weinen gibt, und ich lache wie ein Kind. Außerdem bin ich ein ganz freier Mensch geblieben, nicht durch meine eigene Leistung, sondern durch diesen merkwürdigen Lebensweg. Das empfehle ich auch anderen: Weine und lache, lass das Kind in dir leben, und geh manchmal Kompromisse ein.

epd

Der TV-Moderator und Pfarrer Jürgen Fliege will den Streit mit seiner rheinischen Landeskirche begraben. Das gegen ihn laufende Disziplinarverfahren entbehre jeder Grundlage: "Da war nichts, und da ist nichts", sagte der Theologe dem Evangelischen Pressedienst (epd) beim Gespräch in Tutzing. Doch wünscht er sich von seiner Kirche mehr Frömmigkeit und Nähe zu den Menschen. Von 1994 bis 2005 moderierte er "Fliege - Die Talkshow" in der ARD. Geboren wurde Fliege 1947 im nordrhein-westfälischen Radevormwald. Am 30. März wird er 65 Jahre alt.