"Grüner Campus": Wo der Schulleiter Vogelspinnen hält
In keiner Schule Deutschlands wird auf Umweltlehre so großen Wert gelegt wie auf dem "Grünen Campus Malchow". Das Fach gehört zum Pflichtprogramm für alle Schüler. Sichtbares Zeichen dafür ist die eigene Schulfarm: Hier müssen die Kinder Ställe ausmisten und den Tieren zu Fressen und zu Trinken geben.
20.03.2012
Von Mathias Rittgerott (Text) und Sascha Montag (Fotos)

"Ich bin froh keine Ziege zu sein", sagt Max und schiebt die Mistgabel tief in das vor Pisse triefende Stroh. "Weil es im Stall so stinkt", presst der Zehnjährige hervor und wirft eine Ladung Mist in die Schubkarre. Sein Schulfreund Florian stöhnt: "Scheiße, ist der Mist schwer!" Es ist 9 Uhr morgens und die Jungen geraten ins Schwitzen. Mit ihren Klassenkameraden der 4c haben sie ihren wöchentlichen "Bauernhoftag" auf der schuleigenen "Knirpsenfarm".

Die Tierpflegerin Manuela Hauser, in Cargohose und grauer Kapuzenpulli, hat die Arbeit verteilt. Die gelernte Melkerin nimmt die Kinder ganz schön ran. So kümmern sich die Kumpel Max und Florian um den Stall der Ziegen Ping Pong, Krümel und Squaw. Andere Kinder haben das Schwein aus dem Stall gelassen, suchen im Hühnerhaus nach Eiern und scheuchen Ziegen und Schafe auf den Sportplatz, wo die anfangen zu grasen. In der großen Pause werden Schüler zwischen den Tieren Fußball spielen.

Die Kinder besuchen den "Grünen Campus Malchow" im Berliner Ost-Bezirk Lichtenberg. Hier wird das Fach Umweltlehre unterrichtet. Die Teilnahme ist ab der ersten Klasse Pflicht. Das macht die Schule mit rund 550 Kindern einzigartig in der Republik. Unter dem Dach der Umweltlehre lernen die Kinder beispielsweise globale Umweltprobleme wie den Klimawandel kennen, sie befassen sich mit der Energieversorgung und mit gesunder Ernährung. Mensch und Natur bilden eine Einheit, das ist der Kerngedanke.

Im Schulleiterbüro glotzt einen Leguan "Guido" an

Hinter dem Schulkonzept steckt Schulleiter Tobias Barthl. Er ist ein außergewöhnlicher Schulleiter. Nicht weil er seine blonden Haare zu einem Zopf bändigt und ein struppiges Kinnbärtchen trägt. Vielmehr weil der hagere Mann zusammen mit seinem Kollegium immer neue Wege geht, die Kinder schlauer zu machen. Als Barthl 1991 aus dem Harz nach Berlin zog, war er sprachlos: Berliner Kinder können Hahn und Henne nicht unterscheiden, geschweige denn Ahorn von Eiche.

Schulleiter Barthl vor dem Leguan in seinem Büro. Foto: Sascha Montag

Wer Barthl in dessen Büro aufsucht, darf keine Angst haben. Dort glotzt einen als erster der Leguan "Guido" an. Das unterarmlange Tier war in einer Kiste vor dem Schulgebäude abgestellt worden, als es handgroß war. Gleich sieben Vogelspinnen verstecken sich nebenan in kleinen Gehegen. "Alles Abgabetiere", sagt Barthl. Das trifft auf alle 180 Tiere zu, die in Schule und Farm ihr Zuhause haben.

"Die Tiere wirken wie eine Therapie", sagt Barthl. Zappelphilippe werden ruhig, wenn sie sich um Hühner und Ziegen kümmern. Streithammel werden friedlich. Selbst zu den Vogelspinnen gewinnen Kinder Vertrauen. Von zehn Kindern, die in die Spinnen-AG hineinschnuppern, bleiben drei bis vier dabei. "Das Interesse siegt über die Angst." Die Klassen eins bis drei werden jahrgangsübergreifend unterrichtet. Behinderte Kinder - Autisten, Sehbehinderte, Lernbehinderte – besuchen die Schule genauso wie hochbegabte. Die Malchower Reformer lüften somit den Schulbetrieb durch und loten die Grenzen des Möglichen aus. So viel Engagement wird belohnt. 2008 wurden die Malchower mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet.

Kartoffelbrei fürs Schwein, Fleischmix fürs Frettchen

Max und Florian haben Schubkarre um Schubkarre Mist auf den Haufen gefahren. Jetzt geht's ans Tränken. Fünf Gießkannen Wasser schleppen sie ins Ziegengehege. Die Kannen schwappen über, so voll haben die Junge sie gefüllt. Klassenkameraden kommen leichter davon, sie müssen dem Federvieh lediglich die Trinknäpfe füllen. Die Wassermenge müssen sich die Schüler für den Theorieunterricht merken. Zwei Mädchen kontrollieren die Legekisten im Hühnerstall. "Ein Ei", jubiliert Janine und erklärt: "Manche Eier werden im Brütschrank ausgebrütet. Da kommen Küken raus." Die meisten Eier werden jedoch verspeist. "Die kommen aufs Brötchen. Das schmeckt."

Zwischen den Kindern steht Jens Marschalke als ruhender Pol. Er weiß Rat, wenn die Schüler vergessen haben, wo die Gießkannen stehen und wo die Heugabeln. "Sind halt Kinder", sagt er nachsichtig. Marschalke ist einer der ehrenamtlichen Helfer. Hergeschickt wurde er vom Arbeitsamt. "Was soll ich zuhause herumsitzen und verblöden?", fragt er. Die Kinder sind ihm ans Herz gewachsen, die 150 Euro Bezahlung kann er gebrauchen. Das Geld stammt nicht aus dem Schuletat. Hintwer der Schule steht seit 20 Jahren der 400 Mitglieder starke Förderverein "Malchower Grashüpfer".

Umweltlehre in der Klasse 4c. Foto: Sascha Montag

In der Futterküche im Keller des Schulhauses schnipseln Schüler Äpfel und Karotten klein. Jaromir vermanscht in einem Eimer Kartoffeln zu Brei. "Fürs Schwein", sagt er und stampft weiter in der Pampe herum. "Vorhin habe ich für das Frettchen Fleisch durch den Mixer gejagt." Fleischfresser, Pflanzenfresser, der Junge weiß Bescheid. Um 11 Uhr versammelt sich die 4c draußen unter einem Schutzdach.

Die Kinder plappern miteinander, da liest Manuela Hauser ihnen die Leviten. "Es kann nicht sein, dass einem Kind nach zehn Minuten der Rücken wehtut!" Die Arbeitsmoral sei mies gewesen.
Richtig sauer wird Hauser, als ein Kind dem herumschnurrenden Kater Schinken vom Pausenbrot füttert. "Das ist viel zu salzig", schimpft sie: "Das kann die Nieren schädigen!" Hauser nutzt die Gelegenheit über innere Organe zu dozieren. Das war nicht geplant, hat sich so ergeben.

Bio, Mathe, Geografie und Sozialkunde zusammen

Jetzt übernimmt die Klassenlehrerin Sabine Kondaurow das Zepter. Zurück im Klassenzimmer sollen die Kinder aufschreiben, wie viel Wasser sie heute beim Tränken der Tiere und Reinigen der Gehege verbraucht haben. 1,8 Liter schätzt ein Kind für den Wassernapf der Papageien, 70 Liter ermittelt ein anderes für den Bottich der Ziegen. "Wir haben über Hunger in Afrika gesprochen", ruft Kondaurow in Erinnerung. "Und wir verbrauchen fast 300 Liter für die Tiere!" Nun grübeln die Kinder übers Wassersparen. "Den Eimer nicht so voll machen", schlägt ein Mädchen vor. Wasser vom Händewaschen könnten die Tiere trinken.

Ein ganz normaler Tag im Fach Umweltlehre: Die Tiere versorgen (Biologie), den Wasserverbrauch ermitteln (Mathe), den Bogen nach Afrika schlagen (Geografie und Sozialkunde). Wegen dieser Art des Unterrichts wählen Eltern die Grüne Schule für ihre Sprösslinge. Doch an Nachhaltigkeit und Ökologie sind nicht alle interessiert. Wie übrigens auch nicht alle Lehrer. Abzulesen ist dies beispielsweise daran, dass Kinder nicht ausnahmslos auf Recyclingpapier schreiben und ihnen für die Pause eine "Milchschnitte" mitgegeben wird. Barthl und sein Team sind zufrieden, wenn jeder zehnte Schüler ein grünes Gewissen entwickelt.


Sascha Montag arbeitete als Fotograf für dpa und anschließend für die Agentur Zeitenspiegel.

Mathias Rittgerott arbeitet für die Agentur Zeitenspiegel, vor allem für das Magazin Stern. Er lebt in Stuttgart.