1722: Mir Wais, Stammesfürst aus dem afghanischen Kandahar, führt eine Revolte gegen den Schah von Persien, heute Iran, an. Die Nachfolger des "Warlords" vertreiben später für kurze Zeit den Herrscher auf dem Pfauenthron aus der damaligen Hauptstadt Isfahan. Diplomatische Depeschen und Korrespondentenberichte machen das Geschehen einem in der Ära des Hochbarock orientbegeisterten Publikum bekannt, so auch im Hamburg. Georg Philipp Telemann, Theaterleiter und Direktor der Kirchenmusik für die fünf Hauptkirchen der Stadt, hungert geradezu nach Stoffen für die Oper.
Mai 1728: Am Theater am Gänsemarkt erlebt Telemanns Singspiel "Miriways" seine Uraufführung. Der Librettist Johann Samuel Müller, Stückelieferant für eine Reihe von Komponisten der "Hamburger Barock-Oper", mixt sehr zum Ergötzen des protestantisch geprägten Bürgertums den historischen Plott mit einigen verzwickten Liebeshändeln und, nicht zuletzt, einer ethischen Botschaft. Der Eroberer durchläuft eine Wandlung zum aufgeklärten Herrscher, der Legitimität, Milde und Menschlichkeit als Direktive seines Handelns entwickelt.
Wie das Musiktheater auf Politik reagierte
Das dramaturgische Sujet des "aufgeklärten Tyrannen", von Mozart etwa im "Titus" aufgegriffen, hat eine frühe Ausdrucksform gefunden. Nicht minder bedeutsam: "Miriways" ist der seltene Fall einer raschen Reaktion des Musiktheaters im Genre der Barockoper auf ein politisches Ereignis. Telemanns Denken ist weder provinziell oder artifiziell begrenzt noch historisch rückwärts gerichtet wie zum Beispiel bei Händel, seinem Zeitgenossen. Die Globalisierung ist älter, als manche denken, zumindest auf der Bühne.
Kantate "Die Hirten bei der Krippe zu Bethlehem" (1759). Bild: Wikipedia/cc
März 2012: Bei den Magdeburger Telemann-Festtagen ist das Werk erstmals wieder seit der Uraufführung szenisch zu erleben. Jakob Peters-Messer (Regie) und Michi Gaigg (Musikalische Leitung) bringen mit einem gefällig agierenden Sängerensemble und dem L'Orfeo-Barockorchester eine Fassung zustande, die in dem Maße für sich einnimmt wie sie zugleich enttäuscht. Im Spiel wie in der Visulisierung (Bühne/Kostüme: Markus Meyer) dominiert exotische Unterhaltsamkeit.
Die - zeitlose Aktualität erheischende - Wandlung Miriways' von der barbarischen zur moralischen Existenz wird so nicht wirklich plausibel. Bezüge zum heutigen Militärdrama in Afghanistan bleiben eh außen vor. Und doch ist das Kernstück der 21. Telemann-Festtage in der Geburtsstadt des Komponisten (1681-1776) weit mehr als eine beliebige "Ausgrabung" in den "exotischen" Sparten der Kunstform Oper. "Miriways" markiert die jüngste Etappe in der mittlerweile 50 Jahre umspannenden Auseinandersetzung mit dem Komponisten, Impresario und Musikkritiker, die so engagiert und systematisch an keinem anderen Ort geleistet wird. Auch nicht in Hamburg, wo Telemann sehr viel länger als in Magdeburg lebte und als Erneuerer wirkte.
"Ich habe mich nun von so vielen Jahren her ganz marode melodiert und etliche tausend mal abgeschrieben wie andere mit mir." Dies gesteht Telemann auf dem Zenit seiner Karriere Carl Heinrich Graun, dem Hofkapellmeister Friedrichs II. in Berlin. Das hanseatische Understatement bedient und ironisiert zugleich das Etikett vom "Vielschreiber", das dem Schöpfer der "Tafelmusik" bis heute gern angehängt wird, obwohl er von seinen Zeitgenossen ungleich stärker geschätzt wurde als Bach und Händel. In der Tat hinterließ das "Genie der Vielseitigkeit" (Telemann-Biograph Karl Grebe) mit der stupenden Fähigkeit zu melodischer Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit ein geradezu voluminös zu nennendes Gesamtwerk. Annähernd 2000 Werke sind registriert, allein etwa 1000 Orchestersuiten, ferner an die 40 Opern, 46 Passionsmusiken, Messen, Psalmen, Kirchenkantaten, Konzerte und eine Vielzahl von Auftrags- und Gelegenheitsmusiken.
Gegen Telemann war Bach in Leipzig nur zweite Wahl
In der quantitativen Dimension freilich lässt sich die künstlerische Bedeutung Telemanns zwischen Hochbarock und Wiener Klassik keinesfalls erspüren, geschweige denn fassen. So ist der Anteil des heute am meisten Verkannten und Unterschätzten unter den Heroen des Barock vor allem aus der geistlichen Musik nicht wegzudenken, die seinen Ruf und späteren Ruhm erst begründete. 1712, also vor 300 Jahren, wurde er Kapellmeister an der Barfüßer- und Katharinenkirche in Frankfurt am Main. Aus dieser Zeit stammt seine Epoche machende Passion "Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus". In der Folgezeit häuften sich die Angebote, Hofkapellmeister bei diversen Fürsten und Grafen zu werden. Eine Pikanterie am Rande: 1722 lehnte Telemann, der sich gerade für Hamburg entschieden hatte, den Ruf ab, Thomaskantor in Leipzig zu werden. Bach kam zum Zuge, für manche "zweite Wahl".
Mit dem Passionsoratorium "Der Tod Jesu", der "Matthäuspassion 1750" der "Lukaspassion 1728" und dem Konzertabend "Telemann und Luther" gaben denn auch die Magdeburger Festtage 2012 dem Kirchenmusiker Telemann adäquat Raum und Aufmerksamkeit. Der Konzertabend mit der Wiedergabe einiger von Telemann vertonter Texte des Reformators war als eine Reminiszenz zum Themenjahr "Reformation und Musik" innerhalb der Lutherdekade konzipiert. Eine Idee, die auch andernorts Nachahmung finden könnte.
Apropos: Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff apostrophiert im Programm zu den Festtagen das Werk des "einzigartigen Glücksfalls in der deutschen Musikgeschichte" als "wichtigen Teil unserer kulturellen Identität". Es wäre kulturpolitisch von Wert, würde der Zuschreibung eine lebendige Aufführungspraxis folgen, in Theater- und Konzertsälen wie Kirchen. Und dies nicht nur bei den Magdeburger Festtagen 2014.
Deutschlandradio Kultur sendet einen Mitschnitt von "Miriways" am 14. April 2012. Eine konzertante Wiederaufnahme der Oper beim Brucknerfest Linz ist für den 23. September 2012 vorgesehen.
Ralf Siepmann arbeitet als freier Journalist in Bonn.