Thomanerchor: "Zu viel Trubel, um Heimweh zu bekommen"
Im Mittelalter zogen sie singend von Haustür zu Haustür, heute prangen sie von Plakaten, Flugzeugen und Briefmarken. Seit 800 Jahren gibt es den Leipziger Thomanerchor. Das Jubiläum wird ab Montag mit einer großen Festwoche gefeiert.
19.03.2012
Von Stephanie Höppner

Es ist fünf vor sechs. Emsig bauen die Schüler die Stühle im Foyer der Thomasschule auf. Es wird geredet und gelacht, doch jeder Handgriff sitzt. Punkt sechs betritt Thomaskantor Georg Christoph Biller den Raum. Ein mahnender Blick und die zerknüllten Kapuzenjacken einiger Jungen wandern auf die Stuhllehnen. "Silentium!" Das Rascheln und Flüstern verstummt. Rund 80 Jungen zwischen neun und 18 Jahren schauen konzentriert nach vorn. Die Probe eines der berühmtesten Knabenensembles der Welt, des Leipziger Thomanerchors, beginnt.

Sekunden später wird der Raum vom Gesang durchflutet, das helle Sopran der Kinder mischt sich mit dem Bass der Älteren. Konzertatmosphäre in dem sonst so nüchtern wirkenden Bau. "Piano, Mensch!", poltert der sonst so bedächtig wirkende Kantor plötzlich. Und zu einem anderen: "Du musst auch mal mitmachen!". Die Musik, so sagt Biller, ist eben "autoritär". "Da kann man sich nicht aussuchen, ob man das jetzt so macht oder nicht, sondern es wird einfach gemacht."

Renommee weit über Deutschland hinaus

Die Liebe zur Perfektion und zur Musik zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Chors, dessen Markenzeichen die sogenannten Kieler Blusen sind. Viele berühmte Musiker - von Barockkomponist Johann Sebastian Bach bis zu den Sängern der Pop-Gruppe "Die Prinzen" - haben hier bereits mitgewirkt. In der kommenden Woche feiert der Chor sein 800-jähriges Bestehen und kann dabei auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken.

Gegründet 1212, war der Chorgesang zunächst eine Art Arbeitsleistung, die die Jungen erbringen mussten, um im klösterlichen Stift St. Thomas aufgenommen und ausgebildet zu werden. Sie traten bei Hochzeiten, Begräbnissen und anderen wichtigen Ereignissen auf, zogen singend von Haus zu Haus. Nach einigen Jahrhunderten hatte sich der Chor bereits ein weit über Deutschland hinausreichendes Renommee erarbeitet. Die Schüler kamen mittlerweile sogar aus Dänemark, Preußen oder Polen.

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Heute sind es vor allem wieder Leipziger Eltern, die ihren Sprösslingen eine besondere Form der Ausbildung anbieten wollen. Dies liegt vor allem an der Talentsuche, die in erster Linie in den Kindergärten der Region angeboten wird. "In knapp 90 Prozent kommen die Kinder, weil die Eltern es ihnen vorgeschlagen oder bereits ihre Geschwister die Schule besucht haben", erklärt Geschäftsführer Stefan Altner. Die vielen Auslandsreisen, die Musik und nicht zuletzt die "Vermittlung bürgerlichen Kulturguts" machen den Chor für sie attraktiv. Etwa ein Drittel der Schüler schlage nach dem Abschluss eine Karriere als professioneller Musiker ein.

Familienersatz im "Kasten"

"Meine beiden Eltern sind Kirchenmusiker, von ihnen kam auch die Idee, hier mitzumachen", erzählt auch der 17-jährige Sebastian Borleis, der schon seit vielen Jahren im Thomanerchor mitwirkt. Der Vater des 13-jährigen Paul Vogel ist Komponist. Obwohl viele Jahre Altersunterschied zwischen ihnen liegen, kennen sich die beiden Jungen. Dies hängt auch mit dem Erziehungskonzept der Thomaner zusammen. "Die Älteren sollen die Kleineren erziehen und die Kleineren können sich immer an die Älteren wenden", erklärt Sebastian. Je älter man werde, desto mehr Verantwortung bekomme man.

"Es gibt viele verschiedene Ämter, wie zum Beispiel den Domesticus, der auf die Sauberkeit zu achten hat, oder die Präfekten, die auch mal die Proben bei den Kleineren übernehmen, die Aufstellung für Aufführungen mitbestimmen und dafür sorgen, dass alle Anfang der Woche die Noten haben", erzählt er weiter. Gemeinsam leben die Schüler im Alumnat in altersgemischten Stuben. Diese liegen zur Zeit wegen der Umbauarbeiten in einem Interimsgebäude ganz in der Nähe des alten Internatsgebäudes, genannt "Kasten". Die Gruppe ist auch eine Art Familienersatz, denn ihre Eltern bekommen die Thomaner an sechs von sieben Tagen nicht zu Gesicht.

An das eigene Heimweh als Thomaner erinnert sich auch Thomaskantor Biller, der von 1965 bis 1974 Mitglied war. "Heimweh ist natürlich etwas, was einen ganz und gar betrifft, und was dann oft dazu führen könnte, dass man etwas aufgibt", erzählt er. "Aber die Musik war zu stark, so dass ich doch blieb und geblieben bin bis heute." Auch der 13-jährige Paul erzählt davon. Doch mittlerweile gehe es ihm gut, sagt er. Bei dem vier Jahre älteren Sebastian kann die Sehnsucht nach den Eltern in seiner Erinnerung erst gar nicht auf. "Hier gab es viele Jungs, mit denen ich Fußball spielen konnte. Es war viel zu viel Trubel, um Heimweh zu bekommen."

epd