Oliver Schröm bedankt sich schon nach einer Woche für die viele Post im neuen virtuellen Briefkasten. "Ich bin angenehm überrascht", sagt der Leiter des Teams investigative Recherche beim Gruner+Jahr-Magazin "Stern". Denjenigen, die ihn gefüllt haben, schreibt er im ebenfalls neuen investigativ-Blog, was sein siebenköpfiges Team demnächst aus ihren Tipps machen wird.
Konkretes verrät er nicht, die Informationen waren schließlich vertraulich und sind noch nicht ausrecherchiert. Aber es hört sich spannend an: "Dirk Liedtke und Andreas Mönnich beispielsweise verfolgen die Spur zu einem Umweltskandal. Sollten unsere Recherchen bestätigen, was erste Dokumente andeuten, bekommt ein großes deutsches Unternehmen womöglich schlechte PR und Ärger mit Behörden." Oder: "Und Uli Rauss verfolgt einen sehr konkreten Leser-Hinweis über heikle, womöglich illegale Exporte in den arabischen Raum."
Die Namen der Redakteure sind auf ihre Biographien verlinkt – mit Foto, Alter, Ausbildung, beruflichen Schwerpunkten. Alle bloggen über ihre Arbeit, über die "Stern"-Artikel, die sie recherchiert haben, über Weiterentwicklungen und die Folgen der Veröffentlichung – "die Geschichten hinter den Geschichten", wie das Rechercheblog erklärt. "Wir wollen unsere Gesichter zeigen und so mit den Leser in Kontakt treten", sagt Schröm, seit November auch Vorstand des Netzwerks Recherche (NR).
Der "Stern"-Briefkasten setzt auf überregional bedeutende Themen
Der Kontakt soll Vertrauen schaffen - das Vertrauen, das Hinweisgeber brauchen, um sich mit Brisantem an Journalisten zu wenden. Denn in der Regel gefährden sie sich, ihren Arbeitsplatz oder ihr persönliches Umfeld durch die Preisgabe ihres Geheimnisses. Kontaktmöglichkeiten gibt es deshalb viele auf der Webseite – eine davon ist noch neu in der deutschen Medienlandschaft: Der elektronische Briefkasten.
Das WAZ-Portal "Der Westen" hat ihn seit eineinhalb Jahren, ebenfalls eingebettet in ein Blog, das die Arbeit der Rechercheure transparent macht – und bekommt dort nach eigenen Angaben neben Spam zwischen pro Woche zehn bis zwölf spannende Hinweise, die es ohne den anonymen Platz im Netz vielleicht nicht gegeben hätte. Auch der dortige Recherche-Leiter David Schraven ist im NR-Vorstand. "Wir haben uns natürlich über das Portal ausgetauscht", sagt Schröm. Austauschbar seien die beiden Leaksplattformen trotz Ähnlichkeiten aber nicht: "Der 'Stern' hat eine überregionale Zielgruppe und damit auch andere Themen." In seinen Briefkasten soll Material für 'Stern'-Geschichten hinein – überregional Bedeutendes.
Eine redaktionsfremde Leaks-Plattform wie Openleaks für sich zu nutzen kam für die investigative Recherche beim "Stern" irgendwann nicht mehr in Frage, so Ström. Beim vor über einem Jahr von Ex-Wikileaks-Sprecher Daniel Domscheidt-Berg angekündigten OpenLeaks-Projekt, bei dem angeschlossene Redaktionen und NGOs die zugespielten Informationen überprüfen und bearbeiten, läuft sowieso immer noch nichts. Ebenso wie beim bekannten Enthüllungsportal WikiLeaks.
Anonym und nicht nachverfolgbar
Ist das eine Lücke, die jetzt die journalistischen Medien füllen? Mit seiner Startphase ist der "Stern" jedenfalls zufrieden. Technische Details zum Briefkasten gibt Schröm nicht preis – "auch das ist Teil des Sicherheitskonzepts". Der Upload-Bereich sei auf neustem technischem Stand und "absolut sicher." Hochgeladen werden können Dokumente, Videos, Bilder - anonym und nicht nachverfolgbar. Melden können sich Leser aber auch per Mail, Telefon, Twitter oder Facebook. "Davon versprechen wir uns genauso viel", sagt Schröm. "Der 'Stern' ist von außen betrachtet ein großes Ganzes. Das macht die Hürde für Whistleblower hoch. Indem wir unsere Kontakte konkretisieren und als Redakteure im Netz präsent sind, senken wir die Hemmschwelle, sich zu melden."
Schröm hofft, dadurch mehr und andere Personen zu erreichen. Denn Informanten und Spezialisten für verschiedene Themen hat der "Stern" seit jeher – "zum Teil sind das langjährige gewachsene Beziehungen", sagt Schröm. Whistleblower können aber auch einmalig heiße Informationen haben und noch nie mit Journalisten zu tun gehabt haben. "Gerade dann ist es wichtig, dass sie uns kennen und wissen, wie sorgfältig die entsprechenden Journalisten mit den Infos umgehen."
Transparenz der Journalisten, nicht der Quelle
Diese Transparenz über die journalistische Arbeit kann mehr bringen als der bloße virtuelle Briefkasten, glaubt der Hamburger Journalismusforscher Johannes Ludwig, der auf anstageslicht.de Geschichten von und mit Whistleblowern dokumentiert. "Man braucht Vertrauen, um Geheimnisse preiszugeben, die einem selbst gefährlich werden können." Vertrauen, das an Personen gebunden sei. "Der 'Stern' hat selbst schon früher damit Erfolg gehabt, dass er den Informantenschutz sehr wichtig genommen hat", sagt Ludwig. Und das auch nach außen getragen hat.
Ein bekanntes Beispiel dafür erzählt Ludwig regelmäßig seinen Studierenden: "Stern"-Redakteur Michael Backhaus saß 1993 als Gast im Sat-1-Frühstücksfernsehen, weil seine Recherchen den damaligen Bundesverkehrsminister zum Rücktritt veranlassten. Die Frage, wie er an die brisanten Informationen herankam, beantwortet er nicht, sondern erklärte ausführlich, warum es so wichtig ist, Informanten zu schützen. Einige Tage später spielte ihm ein anonymer Whistleblower fundierte Infos zu, dass der damalige IG-Metall-Chef Steinkühler sich an Insidergeschäften bereichert.
Ludwig: Regionale Medien müssen mehr in Recherche investieren
Professor Ludwig hält elektronische Briefkästen grundsätzlich für unsicherer als einen richtigen. "Computertechnik kann immer geknackt werden und ihre Sicherheit ist für Informanten auch nicht durchschaubar", sagt der Professor. "Nachts einen Datenträger in einen echten Briefkasten zu werfen, halte ich bei wirklich gefährlichen Informationen für sicherer." Für viele Whistleblower eigne sich der "Stern"-Briefkasten auch nicht: "Das sieht man ja an den Geschichten, die es in den 'Stern' schaffen." Ein hoher Prominenz- und Machtfaktor seien dem "Stern" wichtig, Missstände können aber auch in kleinen Betrieben stattfinden, Einzelfälle sein oder sehr regional. Sie seien dann nichts für das Magazin – auch, wenn sie eigentlich relevant sind.
"Es wäre wichtig, dass regionale Medien mehr in Recherche investieren, damit sie Ansprechpartner für solche Informationsträger sein können. Das liegt aber leider nicht im Trend", argumentiert Ludwig. Eine Plattform mit Kontaktmöglichkeiten – seien es klassische oder virtuelle – sei ein Weg, sie zu erreichen. Ist Journalismus transparent, seien Menschen eher bereit, einem Journalisten ihres Vertrauens Informationen zu geben. "Viele wären dann auch bereit, für hochwertigen Recherchejournalismus Geld zu zahlen, weil sie dann wissen, wie aufwändig er ist", sagt Ludwig. Und so steige die Chance für Journalisten, Missstände zu kennen und ans Tageslicht zu bringen.
Miriam Bunjes ist freie Journalistin aus Dortmund.