Herr Professor Udolph, nach welchen Kriterien suchen Eltern den Namen für ihr Kind aus?
Jürgen Udolph: Das hängt vom Bildungsgrad ab. Wir sprechen ja von den "bildungsfernen Schichten", und die lassen sich in erster Linie vom Fernsehen beeinflussen. Es geht einfach darum: Welcher Vorname ist im Augenblick aktuell? Davon lassen sich gewisse Schichten leiten. Das können wir auch historisch betrachten, rückblickend: Es gab gewisse Tendenzen zum Beispiel zu Namen wie "Kevin", die irgendwann einmal populär geworden sind.
Unter den beliebten Vornamen sind viele biblische: Hanna oder Johanna, Lea und Marie bei den Mädchen, Ben (von Benjamin), Lukas, Jonas, Paul, Noah, Elias und Jakob bei den Jungen. Warum finden sich so viele biblische Namen auf den Listen?
Udolph: Es sind Klassiker. Manche halten sich schon seit Jahrtausenden. Sie wurden früher oft bei der Geburt gegeben. Da hat man Namen von Heiligen, Märtyrern, Päpsten, Bischöfen der Kirche ausgewählt für Neugeborene, in der Hoffnung, dass dieser Name das Leben des Neugeborenen beschützen möge. Der Glaube an die Kirche, an Märtyrer, die für den Glauben gestorben sind, hat dazu geführt, dass man diese Namen ausgewählt hat. Wir haben einen ganz starken Einfluss der christlichen Kirche auf die Vornamen. Die Tendenz war so stark, dass das bis heute immer noch nachklingt.
"Ich wollte eigentlich eine Monika haben, die ist aber jedes Mal am Veto gescheitert"
Wissen die Eltern überhaupt vom christlichen Bezug?
Udolph: Nein. Ich kann es von mir aus auch sagen. Ich bin nun seit über 40 Jahren Namenforscher und habe vier Kinder. Aber bei der Vergabe der Vornamen habe ich nicht darüber nachgedacht, was sie bedeuten. Das ist wirklich so.
Wie heißen denn Ihre Kinder?
Udolph: Ganz primitiv: Susanne, Martin, Anja und Katja. Wir haben eine Regelung gehabt, die ich weiterempfehle: Wenn es ein Sohn wurde, hatte meine Frau das Vorschlagsrecht und ich ein Veto. Und wenn es ein Mädchen wurde, hatte ich das Vorschlagsrecht und meine Frau das Veto, so dass wir keinen Streit hatten. Ich wollte eigentlich eine Monika haben, die ist aber jedes Mal am Veto gescheitert.
Ich habe da mal einen bösen Satz aufgeschnappt: "Die Kindesmisshandlung beginnt gelegentlich schon bei der Vergabe des Vornamens". Es gibt ja - Verzeihung - grauenhafte Vornamen. Die Eltern möchten, dass ihr Kind etwas ganz besonderes ist, und das soll sich am Namen zeigen. Also wählt man ausgefallene Vornamen aus. Ob das eine gute Wahl ist, ist eine große Frage. Ich habe vor kurzem eine Nachricht aus England gehört, die fand ich sehr beeindruckend: Wenn das Kind ein Jahr alt ist, sind die Eltern zu 54 Prozent mit der Wahl ihres Vornamens nicht mehr zufrieden. Das dürfte in Deutschland ähnlich sein.
Vielleicht liegt es daran, dass manche Eltern erkennen: Mensch, den Namen fand ich so toll, aber den haben ja schon drei oder vier Kinder in der Klasse. Sie sind einfach dem Trend gefolgt, und das ist gefährlich. Wenn man einem Trend folgt, kann es sein, dass es auf einmal Masse wird, und schon ist man nicht mehr so ganz zufrieden. Das sind aber Spekulationen. Ich bin ja Namenforscher und kein Psychologe.
"Als die Reformation eingeführt wurde, gab es eine Wiederbelebung von alttestamentlichen Namen"
"Kindesmisshandlung beginnt schon bei der Namensvergabe", haben Sie gesagt und auch über Modewellen gesprochen: Ist es denn in früheren Zeiten auch schon mal passiert, dass Kinder ganz furchtbare Namen von Heiligen bekamen?
Udolph: Heiligennamen wurden nie als furchtbar empfunden. Auch wenn Sie vielleicht Eustachius heißen oder so, wo wir heute das Gefühl haben, das ist ja nun wirklich bös' veraltet. Das Christentum war früher eine absolute Macht, das dürfen wir nicht vergessen. Und ich glaube, es war absolut nicht schädlich und wurde in der Gesellschaft nicht kritisiert, wenn jemand einen christlichen Namen getragen hat. Selbst wenn der Name griechisch oder hebräisch war und damit im Deutschen völlig unverständlich.
Das Christentum hat die die Vornamengebung in einigen Jahrhunderten entscheidend geprägt. Es ging sogar zu Martin Luthers Zeit noch weiter: Als die Reformation eingeführt wurde, gab es eine Wiederbelebung von alttestamentlichen Namen, die dann in Amerika eine riesige Rolle spielten: Abraham Lincoln, Benjamin Franklin und so weiter. Sogar bis zu dem Sohn von Steffi Graf - wie hieß er? Jaden. Sie wurde damals interviewt: Wo kommt denn dieser - Verzeihung - idiotische Name her? Alle Deutschen waren enttäuscht, kein Mensch kannte diesen Namen. Es ist Jadon, er wird beim Bau der Stadtmauer von Jerusalem im Buch Nehemia genannt.
Denken Eltern über die Bedeutung von Namen nach, oder orientieren sie sich ausschließlich am Klang?
Udolph: Das ist eine prima Frage! Wir haben in Leipzig eine Magisterarbeit machen lassen von einer Studentin, die auch in China gewesen ist. Sie hat die Vornamenvergabe von chinesischen und deutschen Eltern verglichen. Das war höchst interessant! Denn chinesische Eltern suchen den Namen ganz klar nach der Bedeutung aus, während deutsche Eltern sich am Klang orientieren. Deswegen haben wir auch in den Namen viele Vokale: Maria, Ina und so weiter. Das ändert sich ein bisschen durch das Internet, durch das Wissen, dass es auch ganz andere Vornamen gibt. Jetzt beginnen die Eltern auch darüber nachzudenken: Was könnte der Name bedeuten? Aber ich glaube, dass der Klang immer noch das Entscheidende ist.
"Ich bin mit meinem Namen nicht zufrieden. Ich weiß nicht, warum. Man muss damit leben, es hilft nichts"
Wirkt ein Name identitätsstiftend? Wäre ich ein anderer Menschen, wenn ich anders hieße?
Udolph: Es gibt diese beliebte These von Boulevard-Journalisten: Mandy kann niemals Chefsekretärin werden. Ich halte das für ziemlichen Schwachsinn. Es gibt eine Studie von Astrid Kaiser von der Universität Oldenburg, die glaubt, dass Lehrer Kinder, die "Kevin" oder "Sascha" heißen, benachteiligen. Ich hab mit meiner Frau, die seit über 40 Jahren Lehrerin ist, darüber gesprochen und gefragt: "Na, wie ist das, da kommt ein Kevin. Da hat man doch einen bestimmten Voreindruck." Sagt sie: "OK, stimmt. Aber wenn er sich in der ersten halben Stunde anständig benimmt und mitmacht, dann ist der Vorname vergessen." Ich bin nun Namenforscher mit Leib und Seele, und doch bezweifle ich nachhaltig, dass der Vorname oder auch der Nachname eine negative oder positive Rolle für das Leben eines Menschen spielt.
Sie heißen Jürgen mit Vornamen. Sind Sie zufrieden? Und was bedeutet Ihr Name?
Udolph: Ich bin mit meinem Namen nicht zufrieden. Als ich vor zehn Jahren wieder anfing, Fußball zu spielen, habe ich nicht den Namen Jürgen eingeführt, sondern Jogi, einen alten Spitznamen, den find' ich einfach besser. "Jogi" kann man auch schneller aussprechen, "Jürgen" ist schwierig. Kinder kriegen das in den ersten ein, zwei Jahren kaum raus, die sagen "Juli" oder so.
Jürgen ist auch ein Heiligenname, es ist nämlich die norddeutsche Form von Georg und kommt von griechisch "georgos", der Bauer. Aber hier geht's natürlich vor allen Dingen um den Heiligen Georg - also ein typischer Fall für eine Benennung nach einem christlichen Heiligen. Ich glaube, mir geht's so wie vielen Menschen, die finden ihren eigenen Vornamen nicht besonders schön. Ich weiß nicht, warum. Man muss damit leben, es hilft nichts.
Dieses Interview wurde am 14. März 2012 auf evangelisch.de veröffentlicht.