Die Berliner Grünen haben Sie für die Bundesversammlung nominiert. Sie werden am 18. März Joachim Gauck zum Bundespräsidenten wählen. Was bedeutet das für Sie?
Marianne Birthler: Ich habe mich sehr über die Nominierung von Joachim Gauck gefreut. Und natürlich ist es schön, so nah dran an diesem Ereignis und sogar daran beteiligt zu sein.
Warum sollte Joachim Gauck Bundespräsident werden?
Birthler: Joachim Gauck ist in der Lage, Menschen für Freiheit und Demokratie zu begeistern, insbesondere auch junge Menschen. Aber Joachim Gauck ist ja mehr als ein Protestant und ein guter Redner. Er ist der erste Ostdeutsche, der das höchste Amt im Staat innehaben wird.
Hat das Thema Wiedervereinigung und Aufarbeitung der SED-Diktatur durch die Nominierung von Joachim Gauck wieder Konjunktur?
Birthler: Die Aufarbeitung der SED-Diktatur hat sowieso Konjunktur. Das kann man an der Nachfrage sehen, etwa was Veranstaltungen und Veröffentlichung zur Aufarbeitung angeht. Durch eine Person wie Joachim Gauck könnte das noch gefördert werden. Ich glaube nicht, dass er diese Themen so in den Vordergrund stellen wird. Aber als Person ist er ein Signal. Es ist gesellschafts- und geschichtspolitisch eine bemerkenswerte Entwicklung, dass ein ehemaliger DDR-Bürger, der so sehr wie Jochen Gauck für die Aufarbeitung der SED-Diktatur steht, parteiübergreifend für dieses Amt nominiert wird. Für mich ist diese Nominierung deshalb auch so etwas wie ein Siegel der politischen Öffentlichkeit, mit dem gesagt wird: Wir stehen zu dem, wofür Joachim Gauck steht.
"Joachim Gauck
hat das Zeug dazu,
Brücken zu schlagen"
Und wofür steht Joachim Gauck?
Birthler: Für die kritische Auseinandersetzung mit beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts – er war ja nicht nur Stasibeauftragter, sondern über viele Jahre auch der Vorsitzende des Vereins "Gegen Vergessen für Demokratie". Und er steht für Freiheit ein. Das ist keine Selbstverständlichkeit.
Die Linke hat die als Nazi-Jägerin bekannt gewordenen Beate Klarsfeld für die Bundespräsidentenwahl nominiert. Was halten Sie davon?
Birthler: Ich weiß nicht, warum die Linkspartei Beate Klarsfeld den Vorzug gegeben hat. Vielleicht haben einige Leute gesagt: Prima, jetzt sollen sich die Leute mal entscheiden, was sie wichtiger finden: die Aufarbeitung der NS-Zeit oder des Kommunismus. Aber das wäre eine ganz dumme Alternative. Denn es geht darum, allgemein darüber aufzuklären, wie Diktaturen entstehen, wie sie funktionieren und dass sie Freiheit und Recht zunichte machen. Leider gibt es in der politischen Öffentlichkeit eine manchmal schmerzhafte Konkurrenz zwischen denen, die ihr Leben der NS-Aufarbeitung verschrieben haben und den anderen, die sich vor allem um die Aufarbeitung des Kommunismus kümmern. Ich finde das bedauerlich, denn es geht immer um die eigentlich unbegründete Angst, die Aufarbeitung des anderen könnte das eigene Leiden relativieren. Ich glaube aber, dass Joachim Gauck das Zeug dazu hat, hier Brücken zu schlagen.
Eine ostdeutsche Pfarrerstochter ist Bundeskanzlerin, mit Joachim Gauck wird ein ostdeutscher Pfarrer Bundespräsident – übernehmen jetzt die ostdeutschen Protestanten das Land?
Birthler: Dahinter gleich ein Prinzip oder einen Trend zu entdecken, fällt mir schwer. Damals nach dem Mauerfall haben sich im Westen viele gewundert, wie viel von den Neupolitikern etwas mit der Kirche zu tun hatten. Das lag aber vor allem daran, dass wir in den evangelischen Kirchengemeinden demokratische Umgangsformen und Spielregeln einüben konnten. Wir haben diskutiert, wir haben um Mehrheiten geworben und unsere Vertretungen gewählt. Dadurch haben wir Kulturtechniken entwickelt, die in einer Demokratie von Nöten sind. Da hatten wir aus der Kirche einen kleinen Vorsprung.
Welche Rolle hat denn die evangelische Kirche bei der Revolution in der DDR gespielt?
Birthler: Ich zögere, von der Kirche als Ganzes zu sprechen, weil es da große Unterschiede gibt. Einige Kirchengemeinden in der DDR, leider die Minderheit, hat die Herausforderung angenommen, eine stellvertretende Öffentlichkeit herzustellen. Es ist heute eine beliebte Legende, dass die gesamte protestantische Kirche ein Hort des Widerstandes war. Das stimmt nicht. Es gab aber in den Gemeinden relative Freiräume, in denen Menschen miteinander sprechen konnten, ein Stück weit Demokratie gelebt haben.
Bild links: Mahnwache im Oktober 1989 in und vor der Ost-Berliner Gethsemanekirche. Links neben dem Sprecher steht Marianne Birthler. Foto: epd-bild/Bernd Bohm
Ich nenne gerne das Beispiel einer Familie, die ein behindertes Kind hatte. Sie hatten nichts mit Kirche zu tun, wollten sich aber regelmäßig mit Eltern anderer behinderter Kinder austauschen. So etwas privat zu organisieren, wäre in der DDR aber möglicherweise als illegale Gruppenbildung angesehen worden und damit strafbar gewesen. Also haben sich diese Leute in der Kirchengemeinde getroffen. Auch, wenn es um politische Fragen ging, wie etwa Umwelt- oder Friedensfragen, brauchten die Gruppen ein Dach. Einige Gemeinden haben ihnen dieses gegeben, andere haben gesagt, das habe nichts mit Verkündigung zu tun. Die Kirchengemeinden, die Pfarrer wussten ja, dass das ungemütlich werden konnte.
Wie standen Sie dazu?
Birthler: Ich stand immer auf der Seite der Pfarrer, die Ihre Kirchen öffneten. Das hat auch kirchengeschichtliche Tradition. Kirchen haben schon immer mehr gemacht als bloße Verkündigung des Worts. Sie haben auf gesellschaftliche Notstände reagiert. In einem Jahrhundert haben sie Krankenhäuser und Altenheime gegründet, in dem anderen Jahrhundert Schulen – um der gesellschaftlichen Not etwas entgegen zu setzen. Und in der DDR bestand die Not darin, dass es keine politische Öffentlichkeit gab.
Was bedeutete die Bibel für die Revolution in der DDR?
Birthler: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Evangelium eine Freiheitsbotschaft ist. Jesus ist ja nicht zuletzt angeeckt, weil er für die Freiheit der Menschen eintrat. Immer wieder habe ich festgestellt, gerade 1989 in dieser sehr gefahrvollen Zeit, dass Predigten eine ganz besondere Kraft innewohnte. Ich habe mir das damit erklärt, dass wir damals in einer ähnlichen Situation waren, wie die, in der die Texte entstanden sind.
Marianne Birthler ist in Ostberlin geboren und aufgewachsen. In der DDR arbeitete sie erst im Außenhandel und wechselte dann in die Reihen der evangelischen Kirche, wo sie als Gemeindehelferin arbeitete. Aus Ihrer oppositionellen Haltung zur DDR machte sie nie ein Geheimnis. Birthler saß für die Grünen im Deutschen Bundestag und im Landtag von Brandenburg. Von 2000 bis 2011 war sie als Nachfolgerin von Joachim Gauck als Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen.
Lena Högemann arbeitet als freie Journalistin in Berlin und Hannover.