Die Drohungen, die Verhöre, die winzige dunkle Zelle, in der er eingesperrt war, all das hat Scheich Nawaf al-Baschir (54) vergessen können. Nur die Schreie der Kinder, die in der Zelle nebenan gefoltert wurden, verfolgen das Oberhaupt des Stammes der Bakara immer noch. "Ich höre sie oft nachts in meinen Träumen, dann werde ich wach und denke, ich sei wieder zurück im Gefängnis", sagt Al-Baschir.
"Man hielt mir die Pistole an den Kopf"
Als Oberhaupt des Stammes der Bakara, dem in Syrien etwa 1,2 Millionen Menschen angehören, ist der Scheich um Haltung bemüht. Starr blickt er aus dem Fenster eines anonymen Kaffeehauses, hinaus in den Istanbuler Regen. Als der Kellner kommt, um zu kassieren, legt er geistesabwesend einen 100-Dollar-Schein auf den Tisch.
Bild links: Scheich Nawaf al-Baschir ist das Oberhaupt eines der größten Stämme Syriens. Jetzt ruft er auf zum bewaffnete Kampf gegen das Regime. Foto: Anne-Beatrice Clasmann
Al-Baschir ist ein Scheich ohne traditionelle Kopfbedeckung und großes Gehabe. Er trägt eine Brille, Sakko und Krawatte. Am 31. Juli 2011 nahm ihn der Geheimdienst in Damaskus fest. Dann verschwand der Scheich, der vorher an der Organisation von Demonstrationen beteiligt gewesen war, für 72 Tage komplett von der Bildfläche. In den Foren der Opposition kursierten schon Berichte, wonach er angeblich zu Tode gefoltert worden sein sollte. Am 10. Oktober war er plötzlich im staatlichen syrischen Fernsehen zu sehen, wo er in einem gespenstisch wirkenden Auftritt für politische Reformen unter der Führung von Präsident Baschar al-Assad warb.
Heute sagt er: "Man hielt mir damals die Pistole an den Kopf und drohte, meine Familie zu töten, wenn ich diesen Fernsehauftritt nicht mache. Sie hielten während der Aufzeichnung Pappschilder neben die Kamera, darauf standen die Sätze, die ich zu sagen hatte". Kurz darauf wurde Al-Baschir freigelassen. Er kehrte zurück in seine Heimatprovinz Deir as-Saur. Als er im Januar hörte, dass er erneut festgenommen werden sollte, floh er in die Türkei. Seine Familie musste er zurücklassen. Einer seiner Söhne ist inzwischen desertiert und kämpft mit der Freien Syrischen Armee gegen die Truppen des Regimes.
[listbox:title=Mehr im Netz[Meldung der staatlichen syrischen Nachrichtenagentur Sana zu dem Auftritt des Scheichs im Fernsehen im Oktober (Engslich)]]
Auch der Scheich, der anfangs noch auf friedliche Proteste gesetzt hatte, glaubt seit seinem Aufenthalt in einem unterirdischen Gefängnis im Damaszener Stadtteil Messe, dass der bewaffnete Kampf der einzige Weg sei. Er erklärt: "Ich habe meine Meinung geändert, nachdem ich gehört habe, welche Massaker verübt wurden und nachdem ich im Gefängnis gesehen habe, wie man 22 Kinder und sechs Frauen gefoltert hat. Nach einer Demonstration sah ich die Leiche eines zehn Jahre alten Jungen, dem sie ins Auge geschossen hatten, in seiner Hand hielt er noch einen Keks - da habe ich gesagt, halt, nein, zu viel ist zu viel."
Sein Plan für den Sturz des Regimes ist allerdings ohne Hilfe von außen nicht zu verwirklichen. "Wir brauchen ein sicheres Gebiet für die Deserteure, eine Flugverbotszone, humanitäre Korridore und Waffenlieferungen, dann können wir unser Land aus eigener Kraft befreien", sagt er. Von den Waffen, die Saudi-Arabien und das Golfemirat Katar versprochen hätten, habe er allerdings bislang nichts gesehen, räumt er ein: "Bisher gibt es nur Worte, aber keine Taten."
Wenn das Regime stürzt, dann im Sommer
Mit dem oppositionellen Syrischen Nationalrat (SNC), der seit Monaten um Anerkennung als legitime Vertretung des syrischen Volkes kämpft, hat Al-Baschir zwar Kontakt. Zufrieden ist er mit der Arbeit des SNC-Exekutivbüros aber nicht, vor allem, da sie ihm angeboten hatten, dem Rat als einfaches Mitglied ohne Entscheidungsbefugnis beizutreten. "Die Gruppe 'Erklärung von Damaskus' gehört dem Exekutivrat an, dabei spricht sie nur für 200 Menschen in Syrien. Ich dagegen vertrete 1,2 Millionen Menschen", sagt er.
Wann er nach Syrien zurückkehren wird, weiß der Scheich nicht. Er sagt: "Ich hoffe, es ist bald so weit, dass dieses Regime stürzt. Wenn ich einen Tipp abgeben sollte, dann würde ich sagen, es wird im Juli passieren." Die Wunde an seiner rechten Hand, die sich der Scheich beim Klettern durch den Stacheldraht an der syrisch-türkischen Grenze geholt hat, ist inzwischen verheilt. Doch die inneren Narben schmerzen noch.
"Ich habe, als sie mich zum Verhör führten, ein 14 Jahre altes Mädchen am Boden liegen sehen, das lebte noch, aber es bewegte sich nicht mehr", sagt er. Da ist er wieder, dieser starre, wunde Blick. Dann stapft Al-Baschir durch den Regen davon zu einem Treffen mit anderen Oppositionellen.