Als der amerikanische Präsident die Bibel zerschnitt
Aus US-Wahlkampfreden ist das "God Bless America" nicht mehr wegzudenken. Doch öffentliche Frömmigkeit von Politikern ist ein relativ neues Phänomen: Vor 200 Jahren schnitt ein Präsident gar einmal alles aus der Bibel, was er für Aberglauben hielt.
12.03.2012
Von Konrad Ege

Gott muss viel aushalten in Washington. Aus dem Mund mancher Politiker klingt das obligatorische "Gott segne Amerika" in jeder Wahlkampfrede nicht nach Demut, sondern wie ein Kampfruf. Republikanische Präsidentschaftsanwärter werfen dem amtierenden Präsidenten Barack Obama einen "Krieg gegen Religion" vor. Und Politiker fragen gelegentlich sogar explizit, ob ihre Rivalen wirklich rechtgläubige Menschen seien. Der republikanische Präsidentschaftsanwärter Rick Santorum erklärte kurzerhand, Obama verfüge über eine "fehlerhafte Theologie".

Die Geschichte zeigt allerdings: Penetrante Darbietungen des Glaubens in der Politik sind ein relativ modernes Phänomen in den USA. Präsidenten haben Gott schon immer um Beistand gebeten, und Amerika auf Seiten Gottes stellen wollen, doch früher galt eher, was Präsident John F. Kennedy (1961-63) betonte: Die Ansichten eines Präsidenten zu religiösen Fragen seien Privatangelegenheit.

Man stelle sich vor: Der US-Präsident nimmt eine Rasierklinge, zerschneidet die Bibel und reduziert sie auf ein paar Dutzend Seiten. Er gibt der "Kurzfassung" den Titel "Die Philosophie des Jesus von Nazareth", wie der Religionswissenschaftler Stephen Prothero nacherzählte. Das Werk enthält nur Auszüge aus den vier Evangelien. Nichts über Wunder und die Auferstehung und sonstigen "Aberglauben, Fanatismus und Erfindungen", wie der Präsident mit der Rasierklinge meinte.

Eigentlich gilt die staatliche Neutralität in Religionsfragen

Der Bibelzerschneider war Thomas Jefferson, Hauptautor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der dritte Präsident der USA (1801-09). Einer der ganz großen Nationalhelden. Jefferson war ein Amerikaner seiner Zeit, in der gebildete Bürger eine neue politische Ordnung schufen und wissenschaftliche Erkenntnisse mit Glauben in Einklang bringen wollten.

Probleme mit den heutigen Präsidentschaftsanwärtern, die gern zum Gebet aufrufen, hätte wohl auch Präsident Andrew Jackson (1829-37). Er weigerte sich im Sommer 1832 trotz der Bitten prominenter Geistlicher, einen Tag des Betens zu verkünden gegen die grassierende Cholera-Epidemie. Das sei laut Verfassung nicht die Aufgabe des Präsidenten, begründete Jackson.

Die US-Verfassung schreibt staatliche Neutralität zu Religionsfragen vor, und dass es "keinen religiösen Test" für politische Ämter gebe. Doch kamen bis auf den Katholiken Kennedy alle Präsidenten aus dem protestantischen Spektrum. Viele gehörten der zur anglikanischen Gemeinschaft zählenden Episkopalkirche an, früher scherzhaft "die Republikanische Partei beim Gebet" genannt.

Jimmy Carter war der Frömmste

Als einer der "frömmsten" Präsidenten gilt allerdings ein Demokrat: Jimmy Carter (1977-81), Baptist und Sonntagsschullehrer aus dem damals als hinterwäldlerisch verschrieenen Südstaat Georgia. Doch mit öffentlichen religiösen Bekundungen hielt sich Carter zurück. Nicht einmal bei seiner Amtsantrittsrede wurde Gott erwähnt, außer Carters Hinweis auf die beim Amtseid verwendete Bibel.

Das änderte sich bald. 1980 stand Ronald Reagan in der Joe Louis Arena in Detroit, nach seiner Wahl zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner: Man könne nicht bezweifeln, dass die "göttliche Vorhersehung" die USA als eine Insel der Freiheit geschaffen habe, sagte Reagan. Und weiter: "Könnten wir unseren gemeinsamen Kreuzzug mit einem Augenblick des gemeinsamen Gebets beginnen?" Es wurde still in der Arena, bis Reagan rief: "God Bless America!" Die Menge tobte.

Die Zeiten hatten sich gewandelt: Die 70er Jahre gelten als Geburtsstunde der konservativen christlichen Bewegung. Von den gesellschaftlichen Veränderungen verunsicherte weiße evangelikale Christen stürzten sich in die Politik. Strategen der Republikanischen Partei waren klug genug, diese Wählerschaft zu mobilisieren.

Jeffersons Bibel als E-Book

Kommunikationswissenschaftler David Domke, Autor von "The God Strategy: How Religion Became a Political Weapon in America" (Die Gott-Strategie - Wie Religion in Amerika zur politischen Waffe wurde), hat nachgezählt. Er wertete rund 360 bedeutende Ansprachen amerikanischer Präsidenten seit 1930 aus. Ergebnis: Vor Reagan erwähnten US-Präsidenten Gott in knapp der Hälfte ihrer Reden. Bei dem Republikaner Reagan sei Gott auf 96 Prozent gekommen, bei George Bush auf 91 Prozent und bei George W. Bush auf 94 Prozent.

Der Ton habe sich ebenfalls verändert, analysierte Domke. Vor Reagan seien Präsidenten im Zusammenhang mit Gott eher als Bittende aufgetreten; danach als Verkünder - überzeugt, dass Amerika in Gottes Auftrag handle. Auch demokratische Präsidenten sprechen nun mehr über ihren Glauben. Barack Obama sagte kürzlich, er bete jeden Morgen, fügte aber dazu: "Wir wissen, dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben." Nur Gott sei unfehlbar, nicht die Menschen.

Und auch Thomas Jeffersons Kurz-Bibel erlebt gerade eine Art Renaissance: Im Smithsonian Museum in Washington wird sie ausgestellt. Und bei Amazon kann man sie als E-Book kaufen.

epd

Thomas Jefferson: "The Jefferson Bible or, The Life and Morals of Jesus of Nazareth", Martino Fine Books, 174 S., ca. 4 Euro (englischsprachig)
David Domke, Kevin Coe: "The God Strategy: How Religion Became a Political Weapon in America". Oxford University Press, 231 S., ca. 60 Euro (englischsprachig)