Herr Abresch, wie haben Sie das Erdbeben am 11. März 2011 erlebt?
Philipp Abresch: Ich habe in die Augen unserer Mitarbeiter geguckt, die unter anderem in mein Büro stürzten, und dann war mir klar: Das ist anders als sonst. Dann sind wir raus, in so einem dreistöckigen Einfamilienhaus ist man ja schnell draußen vor der Tür. Und dann sah ich die Strommasten, die sich bogen wie Masten auf einem Schiff bei schwerer See, von ganz weit rechts nach ganz weit links. Am Horizont sah man auf den Hochhäusern im Stadtteil Shibuya, da wurde gerade gebaut, einen Baukran, der wackelte so dermaßen, ich dachte, der fällt gleich runter, die ganzen hundert Meter. Das war schon sehr eindrücklich.
Dann sind wir zurück ins Büro. Das Regal, das stand noch, die Bücher lagen auf dem Boden, der Computerbildschirm und die Uhr waren runter gefallen, genau stehengeblieben bei 14.46 Uhr. Aber die Telefonleitungen waren alle stillgelegt. Erst nach und nach kriegten wir wieder Kontakt zur Außenwelt. Dann kamen schon die ersten Anrufe aus Deutschland: Seid ihr okay, können wir telefonieren? Und dann haben wir angefangen zu arbeiten.
Woran liegt es, dass die drei Katastrophen dieses Tages - Erdbeben, Tsunami, Atomunfall - noch lange nachwirken werden?
Abresch: Bezüglich des Tsunamis zum Beispiel: Wenn man jetzt durch die Straßen geht, die zerstört wurden, türmen sich überall die Trümmerberge. Man hat die Trümmer weggeräumt, aber man weiß nicht, was man mit den Trümmern machen soll. Die müssen eigentlich abtransportiert und in Müllverbrennungsanlagen verbrannt werden. Aber viele Gemeinden, die diese Verbrennungsanlagen haben, sträuben sich, die Trümmer abzunehmen, weil sie Angst haben, dass sie radioaktiv verstrahlt sind. Deswegen kann auch der Wiederaufbau nicht starten.
Und bezüglich Fukushimas: Japan ist ein Atomstaat. Hier gibt es mit die größte Anzahl von Reaktoren weltweit. Das Land hat sein Selbstverständnis daraus gezogen, eine Atommacht zu sein. Und von einem Tag auf den anderen merkte man plötzlich: Das funktioniert nicht. Die Menschen sind jetzt sehr kritisch gegen Atomkraft eingestellt. Aber dem gegenüber steht eine Regierung, steht auch die Nuklearindustrie, die mächtigen Verbündeten in der Regierung und im Verwaltungsapparat, die gegen eine Abschaltung kämpft und weiterhin dafür kämpft, dass Atomkraft eine Zukunft hat. Diesen Konflikt erleben wir hier gerade.
Man schenkt den Menschen nach wie vor keinen reinen Wein ein. Man sagt natürlich, das man aufklären will, aber man gibt von Seiten von Tepco nur das zu, was man nicht mehr leugnen kann. Und unser Eindruck ist, dass auch die Regierung ein ähnliches Spiel treibt. Das hat auch Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit. Es gibt eine Umfrage von einem deutschen Institut hier, derzufolge nur noch vier Prozent der Japaner glauben, was Tepco sagt - und genauso wenige glauben der Regierung noch.
Wie präsent sind in Japan der Tsunami und die Reaktorkatastrophe heute noch?
Abresch: Wenn man durch die Buchläden geht, dann sieht man ganz viele Bücher zum Tsunami und ganz wenig Literatur zu Fukushima. Das kann ich insofern verstehen, als dass der Tsunami auch eine immense Zahl von Fotos produziert hat. Es gibt ganz viele Bildbände dazu. Natürlich ist hier den Menschen der Tsunami viel präsenter, weil es eben schon jetzt so viele Tote gibt: 20.000. Ganz viele Japaner haben nicht verstanden, warum wir so hysterisch auf Fukushima reagiert haben, wo es doch so viele Tote durch die Flutwelle gab. Und das andere ist: In den Medien hier in Japan hat nicht jeder das Interesse daran, Fukushima so zu analysieren, wie er es vielleicht tun sollte. Noch immer gibt es hier so einen Klüngel zwischen Wissenschaft und Staat und auch Medien, die zusammenhalten, die versuchen, die Atomkraft am Leben zu erhalten. Die haben überhaupt kein Interesse daran, dass publik wird, wie die Situation in Fukushima ist.
"Medien in Japan
analysieren weniger,
als wir das gewohnt sind"
Wie empfinden Sie als deutsche Journalist die Haltung der japanischen Medien derzeit?
Abresch: Man hat den Japanern ja nachgesagt, dass sie den Tsunami sehr diszipliniert, ohne Klage, ohne Hysterie geradezu ertragen haben. Da haben sich die guten Eigenschaften der Japaner gezeigt, nämlich als Volk, das zusammenhält und wirklich sehr leidensfähig ist. Ich habe häufig gehört: Los geht's, wir schaffen das. Es war toll, zu sehen, wie sie das gemeistert haben. Bei Fukushima verkehrt sich diese Tugend, wenn man das so sagen darf, ins Gegenteil. Denn gerade hier muss Transparenz her, muss geredet werden, muss aufgeklärt werden. Ich habe fast das Gefühl, in einer Gesellschaft, in der man anders mit Konflikten umgeht als bei uns, trifft dieser Supergau in Fukushima doppelt. Man redet nicht darüber, man guckt lieber weg, und dann hat man geradezu kriminelle Elemente, die den Supergau unter Kontrolle bringen können und die angesichts mangelnder öffentlicher Kontrollen tun und lassen können, was sie wollen. Das hinterlässt bei mir viele Fragen.
Welche Rolle haben die Medien in Japan – sind sie eine "vierte Macht"?
Abresch: Das ist schwer zu beurteilen. Natürlich sind sie eine vierte Macht, sie sind ja Teil des politischen Systems. Aber es gibt hier eine andere Kultur der Berichterstattung. Ich erlebe das immer wieder, wenn ich in der Pressekonferenz von Tepco sitze. Da werden Zahlen und Daten abgefragt. Dann geht es darum, ob es 150.000 oder 140.000 Liter radioaktives Wasser sind, die ins Meer eingeleitet wurden. Es ist sehr faktenbezogen. Die Medien in Japan interpretieren oder analysieren weniger, als wir das gewohnt sind. Beides hat seine Vorteile. Private Medienunternehmen gehören hier häufig zu den großen Unternehmen, die auch in der Atomindustrie tätig sind. Aber es gibt auch viele freie Journalisten, die nicht in diesem System sind, sondern versuchen, von außen aufzuklären. Diese kleine Gruppe wird gegängelt, wo es nur geht.
Bild links: Philipp Abresch beim Berichten für die ARD.
Wie fühlt sich der Jahrestag für Sie persönlich an?
Abresch: Bei mir kommt das auch alles wieder hoch, was seitdem eigentlich alles passiert. Mir kommt das gar nicht vor wie ein Jahr. Mich hat der Jahrestag fast ein bisschen erschreckt. Wir standen gerade erst in den Trümmern eines Krankenhauses. Da sah man noch die Apparaturen, die Lampen und Steckdosen über den Betten waren. Ein typisches Krankenzimmer. Die Betten aber, das hat man uns dann erzählt, sind mitsamt den Patienten von den Fluten einfach aus den Fenstern rausgewaschen worden – auf das offene Meer. Diese Geschichten sind auch nach einem Jahr noch sehr bewegend und eindrücklich.
Man ist emotional gefangen, wenn man in diesen Trümmern steht, die ja kaum bewegt wurden. Da ist einfach wenig passiert. Das ist auch für uns ein besonderer Tag. Wir sind nicht nur Journalisten, die das als Beobachter erleben, sondern wir haben daran teilgehabt. Fukushima ist auch weiterhin Teil unseres Lebens, wir müssen uns auch mit den Folgen der Radioaktivität auseinandersetzen: Was essen wir, was kaufen wir ein?
Haben Sie irgendwann mal überlegt, aus Japan wegzugehen?
Abresch: Dadurch, dass wir das erlebt haben und das auch Teil meines Lebens geworden ist, wäre es für mich undenkbar gewesen, zu gehen. Das ist so wie wenn man plötzlich etwas besitzt und man sich darum kümmern muss. Gehen hätte ich mir nicht vorstellen können. Das geht, glaube ich, jedem bei uns im Studio so. Wir haben das zusammen erlebt, das stehen wir gemeinsam durch.
"Radioaktivität
ist Teil
unseres Lebens"
Wie geht man mit der Angst vor etwas Unsichtbarem um? Testen Sie die Strahlenbelastung?
Abresch: Das muss jeder mit sich selbst abmachen. Man verhandelt das eigentlich jeden Tag aufs neue, wenn man an der Fleisch- oder der Gemüsetheke steht. Es geht darum, das Risiko zu minimieren. Ganz ausschalten kann man es wahrscheinlich nicht, wenn man 250 Kilometer vom vierfachen Supergau entfernt wohnt. Wir versuchen, so gut es geht, uns fernzuhalten von der Strahlung - auf unseren Drehreisen in die Region, aber auch in unserem täglichen Leben in Tokio.
Wir haben uns so zwangsläufig zu kleinen Strahlenexperten weiterbilden müssen. Das hätte ich vor einem Jahr auch nicht gedacht. Jetzt liegt hier auf meinem Schreibtisch ein Dosimeter, er zeigt 40 Nanosievert an (eine sehr geringe Dosis). Wir haben unten in der Garage Schutzanzüge mit Kapuzen, Plastiküberzieher für die Schuhe, Handschuhe und Atemmasken. Radioaktivität ist Teil unseres Lebens. Wir können nur hoffen, dass wir ihr nicht zu sehr ausgesetzt sind. Einmal im Jahr machen wir einen Check, bei dem wir dann auf radioaktive Partikel untersucht werden.
Wie fühlt sich das an, nur darauf hoffen zu können, dass die Strahlung nicht zu nah ran kommt?
Abresch: Das hat viel mit Psychologie zu tun. Wir haben das alle noch nicht erlebt. Auf Radioaktivität als Risiko war niemand eingestellt. Keiner hatte Erfahrungswerte. Man kann diese Gefahr nicht greifen, deshalb hat es etwas mit Psychologie zu tun. Wir haben hier Leute, die Angst vor einem Erdbeben haben, aber keine so große Angst vor Radioaktivität. Dann gibt es andere, die Angst vor Radioaktivität haben, aber ein Erdbeben ist denen völlig egal. Dann gibt es Leute, die fahren nach Fukushima, aber würden keine japanischen Lebensmittel kaufen. Das macht jeder mit sich selber aus.
Kaufen Sie japanische Lebensmittel?
Abresch: Da gibt es keine einfache Antwort. Wenn ich im Supermarkt bin, dann kaufe ich im Moment keine japanischen Lebensmittel - nur Kiwis, da weiß ich, die kommen nicht aus Fukushima. Aber was ist mit Milch, ganz zu schweigen davon, wenn man abends ins Restaurant zu geht? Man weiß es nicht. Am Ende muss darauf vertrauen, dass es im Restaurant Leute gibt, die sich ähnlich sorgen wie wir.
Wie sieht ihr journalistischer Alltag in Tokyo aus: Bestimmen der Tsunami und Fukushima die Themenauswahl?
Abresch: Ich hab die große Hoffnung, dass nach dem Jahrestag wir ein bisschen davon befreit werden. Auch was die Themenauswahl betrifft. Es gibt ganz viele tolle Themen aus Japan, und mehr und mehr waren wir auch wieder in der Lage, die umzusetzen. Darauf freuen wir uns alle. Fukushima wird uns immer wieder begleiten, aber wir wollen die Schutzmasken mal wieder abnehmen.
Philipp Abresch ist seit dem 1. Februar 2011 Leiter des ARD-Studios in Tokyo. Mit Berichten über sumoringende Kinder und Minihäuser mitten in Tokio begann er seinen Dienst. Knapp sechs Wochen später wackelte - wieder einmal - die Erde. Doch am 11. März hörte das Erdbeben scheinbar gar nicht mehr auf. Ein Jahr später kämpft Japan noch immer mit den Folgen. Die Dokumentation "Alltag im Ausnahmezustand" von Philipp Abresch zeigt, wie die Japaner mit dem Unglück bis heute umgehen, und läuft am Sonntag, 11. März 2012, um 21.45 Uhr auf Phoenix.
Rosa Legatis ist freie Mitarbeiterin von evangelisch.de.