Europa setzt auf eine nukleare Zukunft
Ein Jahr nach Fukushima ist die Atomkraft in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Die Fukushima-Katastrophe hatte Europa schockiert - trotzdem wollen sich nur wenige Staaten von der Kernenergie verabschieden. Polen bereitet seinen Einstieg in die Technologie vor, andere Länder planen neue Kraftwerke.
09.03.2012
Von Isabel Guzmán

Den Einstieg Polens in die Kernkraft hatte sich die Regierung in Warschau möglicherweise einfacher vorgestellt. Zwei Atomkraftwerke mit jeweils 3.000 Megawatt Leistung sollen ans Netz gehen, das erste im Jahr 2020. Doch kürzlich ermittelten Meinungsforscher, dass nur 40 Prozent der Bevölkerung die Atomkraft unterstützen. Anschließend ergab eine Volksabstimmung in Mielno an der Ostsee, das als möglicher Standort gilt, dass dort 95 Prozent der Bewohner gegen den Bau sind.

Auch die Finanzierung scheint laut polnischen Medien zu wackeln. Doch vom Nuklearprogramm abrücken will Warschau auf keinen Fall. Als kurzfristige Maßnahme startete die Regierung eine millionenschwere Informationskampagne: "Die relativ geringe Zustimmung hängt direkt mit dem Mangel an Wissen zusammen", heißt es aus dem Wirtschaftsministerium.

Vier Aussteiger gegen die nukleare Mehrheit

Ein Jahr nach der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima ist die Atomkraft in weiten Teilen Europas auf dem Vormarsch. Etliche osteuropäische Regierungen blicken hoffnungsvoll auf die Technologie: Tschechien, die Slowakei, Rumänien und andere Länder setzen auf einen Ausbau. Finnland und Frankreich bauen neue Reaktoren, Großbritannien hat zusätzliche Meiler in Planung.

"Über die nächsten drei bis vier Jahrzehnte wird Atomstrom ein wesentlicher Teil der Energieproduktion in Europa sein", sagt EU-Energiekommissar Günther Oettinger. Derzeit betrage der Anteil 30 Prozent, was mittelfristig möglicherweise so bleiben werde, so Oettinger. Dass die Zahlen mutmaßlich stabil bleiben, liegt unter anderem an den Ausstiegsländern: Neben Deutschland bereiten sich Belgien, Spanien und das Nicht-EU-Land Schweiz auf das Ende der Kernkraft vor.

Als Lektion aus der Fukushima-Katastrophe treibt die EU-Kommission ihre "Stresstests" für die 143 Kraftwerke in der EU voran. Multinationale Expertenteams prüfen, wie gut die Anlagen für Notsituationen wie Erdbeben, Überschwemmungen und Flugzeugabstürze gewappnet sind. Dabei gebe es auch Vor-Ort-Besuche, was ein echtes Novum sei, betont Oettinger nicht ohne Stolz. Die Ergebnisse sollen im Sommer diesen Jahres vorliegen.

Die EU-Tests sind auf Fukushima nicht übertragbar

Ein Vorgehen, das vielen Atomkraft-Kritikern nicht ausreicht. Von "Alibi-Tests" spricht die Co-Vorsitzende der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms. "Die Diskrepanz zwischen den Stresstests und dem, was nationale Aufsichtsbehörden als Sicherheitsstandards für neue Anlagen empfohlen haben, ist enorm", sagt sie. Für bedenklich hält Harms auch, dass die europäischen Stresstests als Vorbild für ähnliche Prüfungen in Japan dienen.

Nicht nur Grünen-Politiker sind darüber beunruhigt: "Die EU-Tests sind auf Japan und auf das Fukushima-Unglück überhaupt nicht übertragbar", kritisiert der Japaner Masahi Goto. Der Atomingenieur war am Bau von Fukushima beteiligt und sitzt heute in einem Gremium, das die japanische Regierung in Atomfragen berät. Die Regierung in Tokio hat es eilig: Derzeit sind in Japan fast alle Atomreaktoren abgeschaltet, was sich nach Möglichkeit schnell wieder ändern soll.

"Es besteht Gefahr, dass Japan seine Reaktoren wieder hochfährt, ohne dass ihre Sicherheit bestätigt ist", sagte Goto kürzlich auf einer Grünen-Konferenz im Europaparlament in Brüssel. Kein Mensch könne im Moment die Erdbeben- und Tsunami-Gefahr in Japan wirklich einschätzen. Der Stresstest der EU sei mitnichten dafür geeignet, die komplizierten Wechselwirkungen zwischen Naturkatastrophen, Materialschäden und menschlichem Versagen zu durchleuchten. "Ich hoffe hier auch auf mehr internationalen Druck auf Japans Regierung."

epd