Vitamin B fördert die Karriere, kann aber überfordern
Wie viel Vitamin B tut gut? Der Arbeitspsychologe Tim Hagemann erklärt, welche Auswirkungen falscher Ehrgeiz im Beruf hat und wie Menschen ohne Gesichtsverlust aus einem Job, der sie unglücklich macht, wieder heil herauskommen.
08.03.2012
Das Gespräch führte Markus Bechtold

Gerade läuft die Fastenaktion der evangelischen Kirche "7 Wochen ohne falschen Ehrgeiz". Ein Schwerpunkt lautet: "Begabt genug? Nicht – alles – allein können müssen". Ist es ratsam im Berufsleben zuzugeben, mal etwas nicht alleine zu können?

Tim Hagemann: Auf jeden Fall ist es im Beruf ratsam zuzugeben, dass man Dinge auch mal nicht alleine lösen kann, oder auch zuzugeben, dass man sich in seiner Position nicht mehr richtig aufgehoben fühlt. Das setzt natürlich voraus, dass man wirklich weiß, was man kann, was man gerne macht und in welchen Tätigkeiten man sich wohl fühlt.

Wann entwickelt sich Ehrgeiz zum falschen Ehrgeiz? Und wie kann man das selbst erkennen?

Hagemann: Ehrgeiz hat immer etwas damit zu tun, dass ich etwas nicht nur für mich selbst mache. Vom Wortursprung her würde man sagen, es hat auch was damit zu tun, dass man Anerkennung will, vielleicht auch Macht; dass man einfach besser sein will als die anderen. Dann richtet man sich sehr stark an seiner Umwelt aus. Schlecht wird es, wenn man nach einem Karrieresprung eine Tätigkeit hat, die einem selbst nicht mehr gefällt, die einen nicht mehr glücklich macht. Dann geht es nur noch darum, Ansehen oder Anerkennung zu gewinnen.

"Jeder wird so lange befördert,

bis er in einer Position ist,

die ihn überfordert"

 

Welche Auswirkung kann falscher Ehrgeiz auf den Menschen und auf Unternehmen haben?

Hagemann: Überforderung. Es gibt da dieses "Peter-Prinzip", das besagt: Jeder wird so lange befördert, bis er in einer Position ist, die ihn überfordert. Das mag stimmen. Wir neigen dazu, uns sehr schnell an eine Situation zu gewöhnen. Wenn wir was erreicht haben, etwa den Schulabschluss, Berufsabschluss und dann den Berufseinstieg, gewöhnen wir uns sehr schnell an das Erreichte. Die Menschen sind natürlich unterschiedlich gestrickt, aber viele versuchen immer mehr zu erlangen. Bis man schließlich in ein Laufrad gerät, in dem es gar nicht mehr darum geht eine Tätigkeit zu haben, in der die eigenen Interessen und Fähigkeiten sinnvoll eingebracht werden können; wichtiger wird, den nächsten Karriereschritt zu machen.

Wenn ich mich in so einer Tretmühle befinde, reflektiere ich nicht mehr, ob ich das mache, weil es mich inhaltlich interessiert oder weil es mich auf der Karriereleiter eine Stufe weiter nach oben bringt. Dann wird es gefährlich. Es besteht Gefahr, dass ich mich in eine Richtung entwickele, die nicht mehr zu meinen Interessen passt.

Überall schießen Eliteschulen, Eliteuniversitäten oder Exzellenzcluster in Unternehmen wie Pilze aus dem Boden. Ist das ein Zeichen dafür, dass Menschen immer begabter werden?

Hagemann: Die Menschen werden nicht immer begabter, aber Begabung oder Leistung spielt eine größere Rolle in unserer Gesellschaft. Der Wettbewerb insgesamt wird in der Gesellschaft stärker gefördert, die Solidarität hingegen weniger. Nach dem Krieg in den 1950ern stand das Thema Sicherheit im Vordergrund. Damals galt es als erstrebenswert eine gute, sichere Anstellung zu haben, möglicherweise verbeamtet zu werden oder zumindest in einem großen Konzern zu arbeiten. Heute ist Arbeit viel identitätsstiftender. Die Auswahl des Berufs lässt viel mehr Rückschlüsse auf die Person zu. Wer früher etwa bei einer Bank arbeitete, hatte einen sicheren und guten Job. Wer heute eine Banklehre macht, den fragt man, wieso er nicht zumindest BWL studiert. Der Druck erfolgreich zu sein, ist gewachsen. Die Schere zwischen den Menschen, die wirtschaftlich besser und jenen, die wirtschaftlich schlechter dastehen, öffnet sich. Unterschiede tun sich auf.

Die meisten Menschen wollen natürlich viel lieber am oberen Ende der Gesellschaft stehen. Das erreicht man aber nur, wenn man schon sehr früh die entsprechende Bildung erhält. Wer beispielsweise auf eine Eliteuniversität will, sollte vorher schon auf einer sehr guten Schule gewesen sein und zuvor eine gute Grundschule besucht haben. Auswirkungen dieser frühen Leistungsorientierung lassen sich in Japan und Frankreich beobachten.

Und was hat es mit dem so genannten Vitamin B auf sich: Wie gut tut es dem einzelnen Menschen und dem Unternehmen tatsächlich?

Hagemann: Das ist eine schwierige Frage. Sicher ist, dass bei erfolgreichen Menschen das Beziehungsmanagement eine große Rolle spielt. Untersuchungen belegen, dass bei Karrieresprüngen nicht notwendigerweise immer das fachliche Wissen, das zwar vorhanden sein sollte, im Vordergrund stehen muss. Letztendlich aber machen diejenigen Karriere, die sich ein gutes Karrierenetzwerk aufgebaut haben. Wir Menschen sind soziale Wesen, soziale Netzwerke sind für uns wichtig, auch im beruflichen.

Ob das einem Unternehmen gut tut, wenn sich als Wert durchsetzt, dass derjenige, der die besseren Beziehungen hat, sich vor dem fachlich Besseren durchsetzt, das bezweifele ich. Auf der anderen Seite ist es ein Zeichen von sozialer Kompetenz, wenn jemand gut vernetzt ist. Das Problem dabei ist das Thema der Gerechtigkeit. Es wird als ungerecht empfunden, wenn Menschen nur Weiterkommen, weil sie gute Beziehungen haben, und nicht, weil sie gut arbeiten. Das wäre wiederum für eine Unternehmenskultur nicht gut.

"Das Klappern

gehört einfach

zum Handwerk"

 

Was können Sie Menschen raten, die über Vitamin B zu einem Job gekommen sind, der ihnen nicht entspricht, der sie überfordert: Wie kommen diese Menschen aus dieser Situation wieder heil heraus?

Hagemann: Ich erlebe oft Menschen, die in diese Mühle geraten sind und am Ende ihres Berufslebens auf einmal feststellen, dass sie vieles, auch im Privaten, dem Beruflichen untergeordnet haben. Eigentlich entspricht dies aber gar nicht ihrer Lebensvorstellung. Wenn ich jemanden frage, was die wirklich wichtigen Dinge in seinem Leben sind, antworten die meisten: erstens Gesundheit und zweitens Familie oder erstens Familie und zweitens Gesundheit. Erst dann kommt das Berufliche. Wenn ich dann aber frage, wie sich jemand verhält, wenn er versprochen hat mit seiner Familie etwas gemeinsames zu unternehmen und plötzlich ein wichtiges Projekt in das Vorhaben platzt, wem sagt er ab, dem Projekt oder seiner Familie? Häufig entscheiden sich Menschen, die Karriere machen, zugunsten des Berufs, auch wenn sie das später vielleicht einmal bereuen. Manche merken erst, wenn die Kinder aus dem Haus sind, dass man vieles nicht mehr rückgängig machen kann.

Wenn man sich in einer Position befindet, von der man zeitlich oder fachlich das Gefühl hat nicht glücklich zu sein, muss man Konsequenzen ziehen und sich neu orientieren. Ich habe beobachtet, dass das dann zwar etwas komisch kommentiert wird, aber es ist nicht so, dass es nicht auch auf Verständnis stößt. Das Verständnis nimmt vielmehr zu. Beispiele sind der Politiker Matthias Platzeck, der wegen eines Burnout als Parteivorsitzender zurückgetreten ist, oder der Fußballtrainer Ralf Rangnick.

Ich habe auch einen Mitarbeitenden, der war Geschäftsführer in einer großen Bildungseinrichtung und arbeitet jetzt bei uns als Projektleiter in einem wissenschaftlichen Team, weil er seine letzten Berufsjahre noch mal inhaltlich arbeiten will. Er ist damit sehr zufrieden, weil er die vielen Erfahrungen, die er hat, jetzt noch einmal auf anderer Ebene einbringen möchte. Er hat lange genug als Manager gearbeitet, jetzt will er seine Erfahrungen als wissenschaftlicher Mitarbeiter einbringen. Dafür bekommt er viel Anerkennung, auch wenn es vermutlich bezüglich Geld und "Position" in der Hierarchie ein Schritt zurück ist. 

Und was raten Sie begabten Menschen, die aber in ihrer Kompetenz nicht wahrgenommen werden?

Hagemann: Das Klappern gehört einfach zum Handwerk, somit auch das Beziehungsmanagement. Es gibt Menschen, die ruhiger sind, sich einfach nicht gut verkaufen, sich nicht verkaufen wollen. Für die Außenwelt ist dann schwer abschätzbar, was derjenige tatsächlich kann. Eigentlich hilft nur eins: Innerhalb meines Betriebs muss ich die Gespräche mit den Entscheidungsträgern, mit den Führungskräften suchen und um eine Chance bitten, gegebenenfalls sie auch einfordern. Wer jedoch sagt, dass er in seinem Unternehmen nicht die Möglichkeiten vorfindet, die er sich wünscht, muss Konsequenzen ziehen und sich nach einer anderen Arbeit umsehen. Man sollte sicherlich nicht einfach 20 Jahre lang zurückstecken, unglücklich sein, auch keine zehn Jahre, um dann an irgendeiner Position haften zu bleiben, die einem nichts bringt.


Tim Hagemann ist Professor am Lehrstuhl Arbeits-, Organisations- und Gesundheitspsychologie an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld.