Syrien: Wie viel wissen wir über Ursache und Wirkung?
Die Situation in Syrien scheint klar: Die Milizionäre von Machthaber Assad gehen brutal gegen Aufständische und die Zivilbevökerung vor. Doch ob das so stimmt, weiß niemand. Es gibt auch Menschen, die das anders sehen. Ein Gewaltverzicht, sagen sie, sei auf beiden Seiten notwendig. Gedanken zu einem brisanten Thema.
02.03.2012
Von Bettine Reichelt

Seit Wochen und Monaten überschlagen sich die Meldungen: Homs unter Beschuss, Homs abgeriegelt, Übergriffe in Damaskus. Und nun auch erste Explosionen in Aleppo. Der Bürgerkrieg greift um sich. Und zugleich die Ratlosigkeit und die Betroffenheitsäußerungen.

Denn was kann man tun, von außen? Und was wissen wir wirklich? Wer möchte wirklich, dass der Krieg endet – von offizieller Stelle? Wer kämpft dort warum? Es scheint auf der Hand zu liegen: Die Diktatur unterdrückt die Demokratiebewegung. Assad soll weg. Und doch schreibt mir eine Freundin aus Syrien: Das schlimmste sei vor allem die westliche Berichterstattung. Sie würde den Konflikt noch verschärfen.

Dass sich die normalen Bürger Syriens Frieden wünschen, liegt auf der Hand. Und ich wünsche es ihnen von ganzem Herzen.

Wer setzt sich ernsthaft gegen Gewalt ein?

Aber wer in den Schaltzentralen der Macht setzt sich ernsthaft für ein Ende der Gewalt ein? Die EU? Russland? China? Zu Recht weist die Organisation "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges" (IPPNW) in einer Erklärung darauf hin, dass beide Seiten Gewalt anwenden und es nur Frieden geben wird, wenn beide Seiten auf Gewalt verzichten. Auch wenn man Ursache und Wirkung nicht verkehren sollte. Doch immer wieder drängt sich mir die Frage auf: Wie viel wissen wir wirklich über Ursache und Wirkung? Und wie viel wissen wir über Machtinteressen in den angrenzenden Staaten? Wie viel wissen wir über die Kämpfer in Homs und Hama? Woher kommen sie? Wer finanziert ihre Waffen? Wer hat woran Interesse? Im Iran? In der Türkei? Im Irak? Im Libanon? In Deutschland? Der EU? Den USA?

Ist es überhaupt Demokratie, die sich die Kämpfenden wünschen – wie es immer einmal wieder gesagt wird? Und wäre die Demokratie überhaupt eine gute Form der Politik für Syrien? In allen Ländern, in denen die fundamentalistischen islamische Kräfte an der Macht sind, sind sie demokratisch gewählt worden. Welcher Weg ist friedlicher, besser für die syrische Bevölkerung?

In einem Gespräch sagte mir im Jahr 2008 der Präsident des Weltrates der Armenisch-Evangelischen Kirche, frei zitiert: "Unsere Lage als Christen in Syrien ist sehr klar: Was wir innerhalb unserer Räume tun, steht in unserer Verantwortung. Natürlich gibt es trotz der offiziell laizistischen Position der Regierung eine Präferenz für den Islam. Dennoch geht es uns in vielem besser, als vielen Christen in anderen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit." Wird die Lage der Christen künftig so klar und vergleichsweise ausgeglichen bleiben? Oder droht ihnen nun eine Vertreibung wie sie die Christen im Irak erleben?

Angst vor einem Flächenbrand

Sehr selten bin ich mit dem Außenminister Westerwelle einer Meinung. Aber in diesem Fall kann ich ihm nur zustimmen: "Es ist das Ziel von Diplomatie, Kriege zu verhindern." Und: "Wir müssen alles vermeiden, was Syrien einem Stellvertreterkrieg näher bringen könnte. Das könnte in der Region einen Flächenbrand auslösen und am Ende eine Konfrontation heraufbeschwören, die bis nach Moskau oder Peking reicht."

Wer aber fordert heute Gewaltverzicht von beiden Seiten? Wer ist integer in diesem schmutzigen Spiel der Macht? Wem ist zu trauen? Die Fragen müssen gestellt werden, auch wenn die Antworten unvollständig und zum großen Teil unbefriedigend sein werden.

Und meine Gedanken gehen zu den Leidenden, zu denen, die diesem Konflikt nicht entfliehen können, denen, die hineingeraten und schlicht überleben möchten, wie wir alle. Das Gefühl der Hilflosigkeit überwiegt. Und zugleich höre ich die Bitten der syrischen Freunde: Betet für uns. Hört nicht auf, uns in eure Fürbitten einzuschließen. Wie viel oder wenig ihr wisst: Vergesst uns nicht in euren Gebeten. Darin möchte ich mich mit ihnen wieder und wieder verbinden und mit ihnen auf eine bessere, friedlichere Lösung der Probleme erbitten und erhoffen als die, die sich derzeit andeutet. Und ich möchte diese Bitte um Fürbitte weitertragen zu allen, die bereit sind, sich mit in diese Gebetskette einzureihen.


Bettine Reichelt lebt als freie Autorin und Lektorin in Leipzig. Für das Monatsmagazin "chrismon" schreibt sie gelegentlich unter der Rubrik "Mein Kirchgang".