"Tagesschau-App": Keine Seite sollte den Streit gewinnen
"Tagesschau sehen, Zeitung lesen" – kann dieses im trimedialen Web-Zeitalter überkommene Schema im Streit der Verleger mit ARD und ZDF noch ein Muster von Wert sein? Sollte einer der Kontrahenten sich auf Kosten des anderen durchsetzen, wären die Folgen für beide Seiten verheerend, was deren Konkurrenzfähigkeit im Ringen mit YouTube, Google & Co. angeht.
27.02.2012
Von Ralf Siepmann

Frankfurt, 27. Februar 2022. Über der (fiktiven) Pressekonferenz von ARD und ZDF liegt der Grauschleier der Depression. Die Daten der Multimedia- (Ex-TV-)Forschung lassen keine andere Interpretation zu: Das öffentlich-rechtliche System hat den Anschluss an "u 30" total verloren. Der Rundfunkbeitrag verliert dramatisch an Legitimation.

Einen Tag später ziehen die Zeitungsverleger vor Hauptstadtjournalisten nach: Der über Jahre befürchtete "Generationenabriss" ist Wirklichkeit geworden. Die Jahrgänge 1997 und jünger haben nicht nur den Printausgaben der Tageszeitungen den Rücken gekehrt. Sie ignorieren nunmehr ausnahmslos auch die Websites und mobilen Services der Print-Marken. "Einfach nicht cool genug!" postet die 20-jährige Vivika im Facebook-Forum. "Geradezu lachhaft, diese Pseudo-Medien ohne richtige Videos!" Im Google-Chat äußert sich der 19-jährige Leander: "Diese ewigen Filmchenlawinen bei 'ZDF young', Schnee für die Augen und nichts dahinter."

Es steht viel auf dem Spiel

Solche Gedankenexperimente können helfen, das auszuleuchten, was bei den seit Dezember laufenden Gesprächen der Spitzen von ARD und ZDF sowie der Zeitungsverleger über eine Aufgabenverteilung im Web auf dem Spiele steht. Vor allem auf lange Sicht. Seit langem schwelt der Streit zwischen den Konkurrenten darüber, welche digitalen Auftritte der jeweils anderen Seite noch erlaubt sein sollen.

Die Kontroverse gipfelte in der Klage, die acht Zeitungsverlage im Juni beim Landgericht Köln gegen NDR und ARD einreichten. Anlass: die kostenlose Tagesschau-App mit ihrer "textdominanten" Berichterstattung ohne Sendungsbezug. Die Verlage stören sich an "presseähnlichen" digitalen Inhalten der öffentlich-rechtlichen Sender. Solche Textangebote ohne konkreten Bezug zu einer ausgestrahlten Sendung verbiete jedoch der Rundfunkstaatsvertrag.

Gericht fordert Gespräche 

In der Praxis, argumentiert Dietmar Wolff, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), agierten die Anstalten an dieser Vorgabe vorbei. Die Ministerpräsidenten schauten untätig zu, "wie mit Gebührengeldern umfänglich Pressetexte geschrieben und digital verbreitet werden". Der Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, Christian Nienhaus, fordert die Geltung des überkommenen Musters: "Tagesschau sehen, Zeitung lesen." Anders werde es für die Verlage kaum möglich sein, funktionierende digitalen Geschäftsmodelle zu etablieren. Die beklagte Seite äußert sich moderat. NDR-Intendant Lutz Marmor: "Die Zeiten der Expansion bei uns sind lange vorbei". Man habe nicht die Absicht, die Presse zu "vernichten".

Noch diplomatischer gibt sich die ARD-Vorsitzende, WDR-Intendantin Monika Piel. Seitdem der Vorsitzende Richter am Landgericht im Oktober die Klage der Verleger als zu unbestimmt abgelehnt und die Parteien aufgefordert hat, "doch miteinander zu reden", bringt sie das System auf "Abrüstungskurs". Im digitalen Zeitalter befänden sich öffentlich-rechtliche Sender und Verlage in einer "Verantwortungsgemeinschaft". Gemeinsam, so Piel, müsse man für den Erhalt einer vielfältigen Presselandschaft sorgen.

"Unzumutbare Amputation"

Wie bitte? Kann, darf es Aufgabe von ARD und ZDF sein, Pressevielfalt zu sichern? Die Position Piels, die schon vor Jahresfrist mit missverständlichen Aussagen zu einer kostenpflichtigen Tagesschau-App für Irritationen gesorgt hatte, löst prompt Kritik aus. Von Seiten der Journalisten-Gewerkschaften und aus dem eigenen Lager. Und mit Vehemenz, als Einzelheiten einer angeblichen gemeinsamen Erklärung der Streitenden bekannt werden. Danach sollen ARD und ZDF bereit sein, bei der "inhaltlichen und gestalterischen Anmutung ihrer Telemedien den Schwerpunkt in fernseh- und hörfunkähnlichen Angeboten" zu setzen. Für die Auftritte der Zeitungen sollen "Text und Foto vorrangig" und die Regel sein, "eigenständige nur video- und audiogeprägte Berichterstattung" die Ausnahme.

Ob diese Formel nach dem jüngsten Spitzentreffen beider Seiten am Faschingsdienstag noch gilt oder nicht – Piel und der von der "taz" als "Verlegerflüsterer" apostrophierte BR-Intendant Ulrich Wilhelm werden von einer Woge von Einsprüchen umspült. Der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV), Michael Konken, warnt vor einer "unzumutbaren Amputation" des Online-Journalismus der öffentlich-rechtlichen Sender.

Ver.di-Vize Frank Werneke befürchtet eine Beschneidung deren Zukunftsperspektive: "Es ist anachronistisch, sich im Internet auf Audio- und Videoangebote zu beschränken." Dieses agiere trimedial. Der öffentlich-rechtliche Auftrag gelte auch für das Netz, schließe also Angebote von Audio, Video und Text ein. Die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Redakteursausschüsse (AGRA) sorgt sich um grundstürzende Folgen für die Entwicklung der Telemedien schlechthin. Im NDR-Medienmagazins "Zapp" sind aus der Redaktion von tagesschau.de indes Ansichten zu vernehmen, die eher auf die Verteidigung von Arbeitsplätzen zielen.

Es sollte keinen Sieger geben

Es ist wohl die Crux dieser Auseinandersetzung, dass sich zwei Kontrahenten eine Schlacht um vermeintlich günstigere Positionen liefern, die mit Blick auf 2022 definitiv keiner von beiden gewinnen sollte. Ist die Zukunft im Netz trimedial, so gilt dies für jede der klassischen Mediengattungen, und zwar ohne Abstriche.

Würde Rundfunk oder Print einseitig um Essentiales der digitalen Präsenz gebracht, flösse noch mehr Wasser über die Mühlen von Google, Youtube & Co.. Und die Lösung? Sie läge dann am Ende in einem Scheinkompromiss, den beide Seiten ohne Gesichtsverlust als Bestätigung ihrer Strategie kommunizieren könnten. Wenn nicht ein Rückzug von der gerichtlichen Bühne nicht ohnehin der beste Weg wäre. Zeit ist noch genug. Vor Gericht trifft man sich wieder am 22. März 2012.


Ralf Siepmann arbeitet als freier Journalist in Bonn.