Joachim Gaucks Vergangenheit an der Warnow
Der künftige Bundespräsident Joachim Gauck hat früher als Stadtjugendpfarrer in Rostock gewirkt. Dort erinnern sich seine früheren Kollegen noch gut an ihn. Eine Spurensuche.
24.02.2012
Von Benjamin Lassiwe

In Rostock heißt er bis heute "Jochen". Von 1972 an war Joachim Gauck Pfarrer in der ostdeutschen Hansestadt. Und die Erinnerungen an den früheren Stadtjugendpfarrer, der 1989 die Friedensgebete an der Warnow prägte, sind bis heute quicklebendig.

"Joachim Gauck hat unsere Gemeinde aufgebaut", sagt Matthias Wilpert. Der Theologe ist Pfarrer in Evershagen, einem Plattenbauviertel am Rande der Stadt. Zu DDR-Zeiten war das Quartier ein beliebtes Wohngebiet, die Menschen lebten gern im Neubau.

Sybrand Lohmann. Foto: Benjamin Lassiwe

Heute ist die Einwohnerzahl von 25.000 auf 16.000 geschrumpft. Viele Gemeindeglieder zogen nach der Wende weg, andere kamen hinzu - "die Gemeinde ist praktisch ausgetauscht", sagt Wilpert. Doch noch immer sprächen Menschen von Joachim Gauck – und von Sybrand Lohmann, seinem Amtskollegen, der seit 1979 ebenfalls in Evershagen tätig war.

"Es gab Leute, die Interesse an Kirche hatten, auch damals schon", sagt der Theologe. "Ich erinnere mich sogar an Offiziere der NVA, die ihre Kinder zur Christenlehre brachten – angeblich, weil die Ehefrauen es wollten." Aber auch die Gatten hegten heimliche Sympathien zur Kirche - "weil sie Freiräume bot".

Dazu kam, dass die akademisch ausgebildeten Pastoren zu DDR-Zeiten nicht besser bezahlt wurden als normale Fließbandarbeiter: "Wir waren dicht an den Menschen", erinnert sich Lohmann.

Gelebte Ökumene zur DDR-Zeit

Und das war auch Joachim Gauck. "Er hat es verstanden, aus der Situation heraus und ohne große Vorbereitung zu den Menschen zu sprechen – er konnte auf den Punkt bringen, was Menschen dachten und fühlten."

Für den Rostocker Pastor ist das bis heute eine "große Stärke, aber auch eine gefährliche Versuchung" seines ehemaligen Amtskollegen geblieben: "Denn man muss sagen: Manchmal hat Gauck gerade wegen dieser Spontanität den Ton auch nicht getroffen und Menschen enttäuscht."

Vor der Tür der Evershagener Kirche (l., Foto: Benjamin Lassiwe) befinden sich zwei Schaukästen. Einer, der auf die Angebote der Evangelischen Kirchengemeinde hinweist, und einer, der Reklame für die katholische Pfarrgemeinde "Thomas Morus" macht. Denn das kleine, gelbe Gotteshaus gehört der katholischen Gemeinde. Die Protestanten sind nur Untermieter. "Wir haben uns zuerst in Wohnungen getroffen, und der Weg zur nächsten evangelischen Kirche war immer sehr weit", erinnert sich Lohmann. "Irgendwann ergab es sich dann, dass die römisch-katholische Kirche bauen wollte."

Schließlich einigten sich die Kirchen darauf, dass die Protestanten das katholische Gotteshaus mitbenutzen durften – ein Beispiel gelebter Ökumene, wie sie zu DDR-Zeiten alltäglich war, heute hingegen kaum noch vorstellbar ist. Regelmäßig trafen sich Gauck und Lohmann mit dem katholischen Pfarrer zu gemeinsamen Dienstbesprechungen, die Gemeinden feierten Fasching, dazu ökumenische Gottesdienste an Sylvester oder dem Buß- und Bettag.

"Anerkennung für Jochens Biografie"

Aus der Zeit der Wende kennt auch Änne Lange den künftigen Bundespräsidenten. 1989 war sie 22 Jahre alt und Medizinstudientin. Und von Anfang an engagierte sie sich in den Rostocker Friedensgebeten, die Innenstadtpfarrer Henry Lohse zusammen mit den Mitgliedern einer kirchlichen Umweltgruppe im September 1986 begonnen hatte. "Weil Gauck so ein brillanter Redner war und Erfahrungen aus der Kirchentagsarbeit mitbrachte, hat man ihn uns damals an die Seite gestellt", erinnert sich Änne Lange.

Änne Lange. Foto:Benjamin Lassiwe

"Wir hatten ein relativ gleichberechtigtes Verhältnis", erinnert sie sich. Gauck beschreibt sie als nüchtern, offen und streitbar: "Wir haben uns gemocht, aber auch aneinander gerieben." Zum Beispiel bei der Frage nach der Deutschen Einheit: "Für Gauck war es nie eine Frage, dass es die Wiedervereinigung gibt – das hängt mit seiner Biografie zusammen, er kannte ja den Westen", sagt Änne Lange.

Die Studenten aus der Umweltgruppe hätten dagegen Zeit ihres Lebens in der DDR gelebt. "Für uns war die Einheit unvorstellbar, wir haben damals lange mit Jochen Gauck diskutiert."

Doch als am Sonntag vor einer Woche beim "Tatort" die Schlagzeile über den Bildschirm lief, dass sich Koalition, SPD und Grüne auf Gauck als Kandidaten geeinigt hätten, habe sie ein Glas Wein mit ihrem Mann getrunken. "Für mich ist die Kandidatur eine Anerkennung für Jochens Biografie", sagt Änne Lange, "aber auch eine Anerkennung für den Einsatz der Kirchenleute in der Wendezeit."


Benjamin Lassiwe ist freier Journalist in Berlin.