Der Kongress würdigt die Toten. Es sind viele Namen, die der stämmige Mann auf dem Podium schon seit einigen Minuten in sein Mikrofon spricht. Die Delegierten beantworten jeden der Namen kämpferisch im Chor: "... ist anwesend!" Eine Gänsehautsituation. Internationale Menschenrechtsorganisationen sprechen von mehr als 200 politischen Morden seit dem Putsch gegen Präsident Manuel Zelaya im Sommer 2009. Unter Präsident Porfirio Lobo habe sich der Terror gegen Oppositionelle und Angehörige von Minderheiten zugespitzt. Berta Oliva vom renommierten honduranischen Menschenrechtszentrum Cofadeh sieht gar einen "schmutzigen Krieg der Regierung" gegen die eigene Bevölkerung durch Polizei, Armee und paramilitärischen Einheiten.
Eine vernichtende Bilanz zur Halbzeit von Präsident Lobo und seiner "Politik der nationalen Versöhnung". Gleichzeitig eine indirekte Kritik an den europäischen Regierungen, die dem mittelamerikanischen Land nach dem Putsch wieder staatliche Entwicklungshilfe gewähren. Die moralische Ohrfeige der Menschenrechtler trifft auch Deutschland, für das Honduras ein Schwerpunktland seiner Entwicklungspolitik ist.
Vor einem halben Jahr zurück aus dem Exil
Auch Manuel Zelaya sitzt auf dem Podium in der grauen Betonhalle in der Hauptstadt Tegucigalpa. Farbe in das Bild bringen allein die langen roten Stoffbahnen, die von der Decke hängen. Bedruckt sind sie mit den Konterfeis der "Märtyrer", wie der Versammlungsleiter die Frauen und Männer nennt, die ihr Leben gelassen haben.
Zelaya war vor einem halben Jahr aus seinem Exil nach Honduras zurückgekehrt - ein Zugeständnis der Regierung Lobo im Tausch für internationale Rehabilitation. Eine bittere Pille für Militärs und Industrielle, die dem Großgrundbesitzer Zelaya nicht verziehen haben, dass er zur Mitte seiner Amtszeit überraschend den Dialog mit sozialen Bewegungen gesucht und sich Venezuelas Präsident Hugo Chávez zugewandt hatte.
Auf dem Plakat dieses Demonstranten ist ein ermordetes Mitglied der Demokratiebewegung zu sehen. Foto: Øle Schmidt
An diesem schwülen Samstagnachmittag gründet Zelaya mit annähernd 300 Delegierten die Partei "Libre - Freiheit und Wiederversöhnung". Aus dem ganzen Land sind sie dafür angereist: Bauernführer und Lehrerinnen, indigene Tagelöhner, Transsexuelle und Studierende.
Zusammengeführt hatte diese bunte Zivilgesellschaft ausgerechnet der Putsch der Generäle vor zweieinhalb Jahren. Seitdem ist die einstige Bananenrepublik, die im vergangenen Jahrhundert unter unzähligen Militärdiktaturen zu leiden hatte, nicht mehr dieselbe. Und "Mel", wie die meisten Delegierten Manuel Zelaya nennen, ist die Integrationsfigur dieser vielschichtigen Demokratiebewegung. Auch, wenn aller Wahrscheinlichkeit nach seine Frau Xiomara Castro als Präsidentschaftskandidatin für die neue Partei antreten wird, da die honduranische Verfassung eine zweite Amtszeit Zelayas verbietet.
"Uns Armen im Land hat doch früher niemand zugehört", sagt Elvira Ramos energisch. Die Straßenverkäuferin glaubte, dass Politik nur etwas für Reiche sei. Heute leitet sie ein Basiskomitee der Demokratiebewegung in einem der Viertel auf den Hügeln über Tegucigalpa. Dort, wo sich unverputzte Steinverschläge die Berghänge hinaufschlängeln.
"Inzwischen wissen wir, dass wir für unsere Interessen einstehen müssen", ergänzt die 43-Jährige. Präsident Lobo habe entgegen seiner Ankündigung Honduras nach dem Putsch nicht zur Demokratie zurückgeführt. "Heute schießen die Soldaten nicht mehr auf Demonstranten, dafür werden Aktivisten von Zivilpolizisten vor der eigenen Haustür entführt."
"Die Situation ist schrecklich"
Ein Mann neben Elvira Ramos nickt. Seinen Strohhut hält er in seinen gegerbten Händen. Der Bauer und Gewerkschafter Julio Hernández ist aus dem Norden angereist, aus der militarisierten Krisenregion Bajo Aguán im Norden des Landes. "Die Situation in Honduras ist schrecklich", sagt der 55-Jährige, "doch die internationale Gemeinschaft verschließt ihre Augen. Fast jede Woche werden Oppositionelle umgebracht oder verschwinden spurlos. Wir alle hoffen inständig auf einen politischen Wechsel."
Im Aguántal eskalierte nach dem Putsch ein Landkonflikt zwischen Großgrundbesitzern und Bauernkooperativen. Die Regierung Lobo ignorierte juristische Gutachten zu Eigentumsverhältnissen und brach die Verhandlungen ab. Zuletzt entsandte sie eine Spezialeinheit von 600 Soldaten, die vorher im Irak stationiert war, um die Zone zu "befrieden".
Der Sonntagmorgen ist noch jung, in wenigen Stunden beginnt der Kongress seinen zweiten Tag. Manuel Zelaya streicht mit seinen Fingern über die Einschusslöcher in dem eisernen Eingangstor. Der Ex-Präsident lebt wieder in der verwinkelten Villa in der Hauptstadt, aus der er von Militärs entführt worden war. "Die Menschen in Honduras wollen keine Waffen und keine Gewalt", beschwört der stattliche Mann, dessen Markenzeichen der Cowboyhut ist, "sie verlangen Demokratie."
Zelaya verbreitet Optimismus. "Wenn es freie Wahlen gibt, dann werden wir diese gewinnen. Die neue Demokratiebewegung ist mit 30.000 Komitees in jeder Ortschaft, in jedem Viertel präsent. Ein Wahlbetrug ist ausgeschlossen", sagt der Mann, der einst mit Waffengewalt aus seinem Amt gedrängt worden war. Nach Satzungsanträgen und Debatten über die politische Ausrichtung ist die neue Partei Libre einige Stunden später offiziell gegründet.
Angst vor Wahlbetrug
Karla Lara, die bekannteste Sängerin von Honduras, ist gerade von einem Solidaritätskonzert der "Künstler im Widerstand" aus dem Aguántal zurückgekehrt. "Ich möchte den Menschen Kraft geben mit meiner Musik", sagt sie. Die Parteigründung sieht sie kritisch. "Der Oberste Wahlausschuss ist wie so viele politische Institutionen fest in den Händen derer, die für den Putsch verantwortlich sind. Wer kann uns garantieren, dass es keinen Wahlbetrug geben wird?" Die zierliche Frau stimmt ihre große akustische Gitarre. "Ich habe gelesen, dass auch die neue Partei von Ex-General Romeo Vásquez bei den nächsten Wahlen antreten wird."
Der ehemalige Oberbefehlshaber der Streitkräfte stand Zelaya schon einmal gegenüber. An jenem denkwürdigen Morgen des Putsches, als Vásquez den damaligen Präsidenten, der nur mit einem Schlafanzug bekleidet war, entführte. In den kommenden zwei Jahren werden sich die beiden nun auf politischem Parkett messen.
Ein weiterer Bewerber ist im Dezember erschossen worden. Alfredo Landaverde, Gründer der Christdemokratischen Partei von Honduras und Ex-Chef der Antidrogenbehörde des Landes, galt als unermüdlicher Kämpfer für die Menschenrechte und gegen die Korruption. Unermüdlich werden wohl auch die Angehörigen der Demokratiebewegung weiter für politische Mitbestimmung in dem kleinen mittelamerikanischen Land einstehen. Als Karla Lara leise die erste Strophe der honduranischen Nationalhymne singt, stimmen die Delegierten im Saal mit ein. Die nächste Gänsehautsituation.
Øle Schmidt ist freier Journalist. Er berichtet für Hörfunk, Print und Online aus Süd- und Mittelamerika. Derzeit lebt er im südmexikanischen San Cristobal de las Casas.
Kathrin Zeiske lebt in Mexiko und in Deutschland. Als freie Journalistin berichtet sie über Migration und Menschenrechte in Lateinamerika.