"Mir reicht's": Es geht auch mit weniger Wachstum und Konsum
Brauche ich das neueste Handy, solange das alte noch funktioniert? Was klingt wie das Grübeln eines notorischen Spaßverderbers, rührt im Kern an die Grundlagen unseres Zusammenlebens. Das finden manche verlockend, andere dubios. Gedanken zum Wachstumsgedanken – und Alternativen dazu.
23.02.2012
Von Thomas Östreicher

"Ich finde nicht, dass eine Wirtschaft immer wachsen muss! Eine kleine Wirtschaft ist viel gemütlicher. Die Kosten sind überschaubar, und man kennt die Kellnerin noch persönlich."
Leserkommentar auf
stern.de

"Genug ist nicht genug", sang der Liedermacher Konstantin Wecker auf seinem gleichnamigen Album, mit dem ihm 1977 der Durchbruch gelang. Er meinte damit alles andere als das gierig-nimmersatte Anhäufen von Geld und Waren, aber als sarkastischer Kommentar zum heutigen Wirtschaften in großen Teilen der Welt taugt der Slogan allemal.

Wer die Wirtschaftsnachrichten verfolgt, lernt auch als Laie schnell: Großes Wachstum ist gut. Kleines Wachstum oder gar Umsatzrückgang ist schlecht. Warum das so sein muss, bleibt nebulös – das Mehr an sich ist ein Selbstzweck, der nicht in Frage gestellt wird. Im Gegenteil: Selbst kräftiges Umsatz- oder Gewinnwachstum eines Konzerns von beispielsweise fünf Prozent im Vorjahresvergleich gilt als fatale Niederlage und Börsenkurskiller, wenn Analysten zuvor von zehn Prozent ausgegangen waren.

Die Erklärung, wieso es nicht ohne Wachstum geht, lautet kurz gefasst: Erfinden, investieren, produzieren und wirtschaften braucht Kredite. Darauf verlangen die Geldverleiher Zinsen. Die Zinsen lassen die Geldmenge wachsen, und damit die Inflationsrate nicht zu stark steigt, muss das Bruttoinlandsprodukt zunehmen.

Also wächst die Wirtschaft stetig, je nach Bereich sogar exponentiell, während gleichzeitig zum Beispiel die Umweltressourcen zur Neige gehen, da das Ökosystem begrenzt ist. Vor 40 Jahren benannte der berühmt gewordene Bericht des Club of Rome die "Grenzen des Wachstums" und beförderte so das ökologische Denken weltweit - und den Zweifel am hemmungslosen Streben nach Zuwachs.

Will der Bioladen wachsen?

Mit Alternativmodellen anstelle des Geldraffens, beschleunigten Konsums und unüberlegten Wachstums beschäftigen sich seitdem Wissenschaftler, Aussteiger, Querdenker und Direktwirtschaftler weltweit und mit ganz unterschiedlicher Motivation.

  • Die Wiederverwertung von Rohstoffen aus "Abfall" hat ganze Industriezweige entstehen lassen.
  • In Deutschland und anderswo bitten bereits manche Millionäre um höhere Besteuerung und beteuern, sei seien reich genug.
  • Inzwischen gibt es unter dem Stichwort "Collaborative Consumption" oder "Sharing Economy" zahlreiche Gemeinschaften, die ganz aufs Geld verzichten und Tauschwirtschaft praktizieren.
  • "Qualitatives Wachstum" (Verbesserung der Lebensqualität, Schonung der Umwelt, gerechte Einkommensverteilung) soll nach Vorstellung prominenter Vordenker an die Stelle des simplen "Mehr" treten.

Im Kleinen gibt es solche Beispiele: Selbstverwaltete Betriebe wie der Bio-Lebensmittelladen "Warenwirtschaft" in Hamburg leben weniger von der üblichen Laufkundschaft als vorwiegend von ihren Mitgliedern, die gegen eine monatliche Gebühr dort nahezu zum Großhandelspreis einkaufen dürfen. So entsteht einerseits Planungssicherheit und entfällt andererseits der Zwang zur Gewinnmaximierung. Allerdings taucht damit umgehend die Frage wieder auf, welche Mitgliederzahl denn genügt, um den Beschäftigten ein befriedigendes Auskommen zu ermöglichen. Und ob es nicht doch zur Sicherheit besser wäre, weiter zu wachsen.

Wie zwiespältig die freiwillige Beschränkung sein kann, erleben ähnlich ganz normale Angestellte. Seit die rot-grüne Bundesregierung einst das Recht auf Teilzeitarbeit in Gesetzesform goss, können sich Chefs und Manager dem Wunsch nach Arbeitszeitreduzierung formaljuristisch nur noch in wenigen Fällen und mit zwingenden Argumenten entziehen.

Beim Thema Teilzeit winkt der Chef ab

Der Bergbauingenieur Werner Müller (Name geändert) aus dem niedersächsischen Peile beispielsweise wollte mehr Zeit für seine Tochter haben und ging die Karriereleiter freiwillig abwärts, wie er der Nachrichtenagentur epd erzählte. Freiwillig wechselte der stellvertretende Betriebsführer auf die Stelle eines Sachbearbeiters. Nach seiner Erfahrung verzeiht nicht jede Firma diesen Schritt: "Wäre ich nicht im Betriebsrat gewesen und gut vernetzt, wäre es schwierig geworden."

Möchte jemand gar von vorneherein zeitlich reduziert arbeiten (und auf den entsprechenden Gehaltsanteil verzichten), um sich Kindern, Hobbys oder schlicht dem Faulsein zu widmen, wird er umso argwöhnischer beäugt. Das erlebte auch der Journalist Matthias Dänzer (Name geändert), der sich unlängst bei einer angesehenen Wirtschaftszeitung als Nachrichtenredakteur bewarb.

Das Blatt berichtet gern über kreative Arbeitszeitmodelle in zukunftsorientierten Betrieben, doch Dänzers Ansinnen, aus familiären Gründen nur drei Tage in der Woche zu arbeiten, wurde sofort rundweg abgelehnt. Obwohl es im Nachrichtenressort organisatorisch kein Problem darstellen würde, wie die Chefs im selben Atemzug einräumten. Aber Angestellte, so die unterschwellige Botschaft, haben gefälligst alles zu geben und möglichst noch etwas mehr.

70-Stunden-Wochen "im Vertrauen"

Ebenso dienen sogenannte Vertrauensarbeitszeiten statt der individuellen Freiheit erst recht der ungehemmten Ausbeutung der Arbeitnehmer, wie erst vor wenigen Tagen etliche Leser eines die neue Arbeitswelt hymnisch feiernden "Spiegel Online"-Artikels ("Gehätschelte Mitarbeiter: Nie waren sie so wertvoll wie heute") ebenso verärgert wie eindrucksvoll schilderten. Der Aufwand für ein Arbeitsprojekt, so die Klage, wurde früher genau abgeschätzt, Überstunden wurden abgegolten. Heute heiße es: Übernimm die Aufgabe bis zum Stichtag, wenn du früher fertig wirst, hast du frei. Nur dass damit genauso gut 70-Stunden-Wochen einhergehen könnten.

Wie heikel es werden kann, wenn die Erwerbsarbeit keine klaren Grenzen mehr kennt, bestätigt der Kölner Journalist und Autor Thomas Gesterkamp. Er widmet sich seit etlichen Jahren neuen Lebensentwürfen und Fragen rund um Karriereverzicht und Work-life-Balance. In seinem Buch "gutesleben.de - Die neue Balance von Arbeit und Liebe" beschreibt er auch aus eigener Erfahrung die Aufgabe, die verschiedenen Anforderungen und Erwartungen an Leben und Arbeiten abzustimmen, als "täglichen Balanceakt".

Er hat beobachtet: "Die klaren Zuordnungen der Geschlechter in Beruf und Privatem gelten nicht mehr. Frauen wollen nicht nur das Zubrot verdienen, Männer bei der Erziehung ihrer Kinder nicht mehr abseits stehen." Doch zugleich seien die Arbeitszeiten gerade in höher qualifizierten Berufsfeldern in den vergangenen Jahren eher wieder länger geworden - kein Gedanke an die Umsetzung der "Weniger ist Mehr"-Philosophie, allem Gerede um Flexibilisierung, freiwilligen Verzicht und "Entschleunigung" zum Trotz.

Bewusstheit macht glücklich

Der Versuch, die Überfülle im eigenen Leben zurechtzustutzen, lohnt dennoch. Als die New Yorker Autorin Judith Levine ein Jahr lang Konsumverzicht übte und nur noch das Nötigste einkaufte (und ihre Erfahrungen im Buch "No Shopping" verarbeitete), veränderte das ihre Einkaufsgewohnheiten nachhaltig. Inzwischen geht sie beim Einkauf bewusster vor und generell zurückhaltender.

Diese Erkenntnis teilen die meisten Selbstbeschränker: Selbst ein zeitlich befristetes Weniger haben/erleben/konsumieren/tun verstärkt die Wertschätzung für das Vorhandene, macht das wirklich Wichtige wieder fühlbar und stärkt so insgesamt die Lebenszufriedenheit. Wer auf seine wahren Wünsche achtet, ist eben grundsätzlich glücklicher.

So wie Werner Müller. Er verdient heute netto monatlich 600 Euro weniger und hat schweren Herzens auf seinen Traumjob im Bergwerk verzichtet. Dafür findet er jetzt Zeit für die Tochter, einen Freundeskreis und ein ausgefülltes Privatleben. Der 54-Jährige ist überzeugt: "Der Schritt war richtig." Das unterstreicht auch der Journalist Thomas Gesterkamp: "Loyalität zu einem Unternehmen speist sich künftig daraus, ob Firmen Bedingungen schaffen, die eine Balance von Beruf und Privatleben ermöglichen." Und ob sie es akzeptieren, wenn ihre Mitarbeiter Weniger als Mehr empfinden.

mit Material von epd

Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.