Freiheit des einzelnen - Verantwortung für viele
Freiheit ist das große Lebensthema des künftigen deutschen Bundespräsidenten. Das kann man vor dem Hintergrund seiner Biographie verstehen, die durch den Widerstand gegen die Diktatur in der DDR geprägt wurde. Freiheit ist freilich ein urbiblisches Thema und ein urevangelischer Begriff und verweist auf den Glauben und die theologische Existenz des Pfarrers Joachim Gauck. Auch dass er Freiheit stets mit Verantwortung verbindet, gehört zum Erbe der Reformation.
21.02.2012
Von Ulrich H.J. Körtner

Das biblische Evangelium ist in seinem Kern eine Botschaft der Freiheit. "Zur Freiheit hat uns Christus befreit!" schreibt der Apostel Paulus im Galaterbrief und warnt davor, die stets gefährdete Freiheit des Glaubens durch eine neue Gesetzlichkeit zu verspielen. Das Christentum ist die Religion der Freiheit, und alle Kirchen sind daran zu messen, inwieweit sie eine Institution der Freiheit sind. Das in Theorie und Praxis neu zur Geltung gebracht zu haben, ist die bleibende Bedeutung der Reformation.

1520 veröffentlichte Luther seine Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Sie beginnt mit einer paradox anmutenden Doppelthese, die es in sich hat: "Eine Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Freiheit im biblischen und reformatorischen Sinne ist eben nicht mit schrankenlosem Individualismus und dem vermeintlichen Recht des Stärkeren zu verwechseln, sondern sie ist stets mit Verantwortung gegenüber Gott und den Mitmenschen gepaart und kann nur im Geist der Gottes- und Nächstenliebe gelebt werden.

Vom Zwang der Selbstrechtfertigung befreit

Positiv gewendet kann evangelische Ethik, d.h. eine Ethik in der Perspektive des Evangeliums von der bedingungslosen Annahme des Menschen durch Gott, als eine vom Geist der Liebe bestimmte Form der Verantwortungsethik begründet werden. Die evangelische Sicht von Verantwortung hängt unmittelbar mit dem Glauben an die Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben zusammen. Auf ihr beruht die Unterscheidung von Person und Werk, welche vom Zwang der Selbstrechtfertigung befreit – und gerade so zur Übernahme von Verantwortung befähigt. Die Wahrnehmung und Übernahme von Verantwortung geschieht nicht nur im Wissen darum, dass Menschen scheitern können, sondern auch im Vertrauen darauf, dass uns vergeben wird.

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Freiheit und Verantwortung gehören mit der Liebe zusammen. Liebe im umfassenden Sinne übersteigt aber jede moralische Forderung, wie auch eine Kultur des Erbarmens das Prinzip der auf Gegenseitigkeit beruhenden Solidarität übersteigt. Darum wird eine evangelische Ethik durch den Gedanken der Verantwortung keineswegs hinreichend bestimmt.

Wie nach einem vielzitierten Wort des deutschen Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenfördes der demokratische Rechtsstaat, so lebt auch die soziale Marktwirtschaft von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen und garantieren kann. Zu diesen Voraussetzungen gehören nicht nur die Werte der Solidarität und der Gerechtigkeit, sondern auch derjenige der Freiheit. Die Freiheit ist nicht nur im Sinne der Solidarität zu beschränken, sondern andererseits auch zu fördern.

Eine soziale Kultur der Verantwortung

Das gilt freilich nur von der Freiheit, die sich nicht als unmittelbarer Wille zur Selbstbehauptung realisiert, sondern sich als Geschehen wechselseitiger Anerkennung versteht. Im Widerspruch dazu wird der Wert der Freiheit neoliberal und individualistisch umgewertet. Das spricht aber nicht gegen den Begriff der Freiheit, sondern dafür, ihn gegen seine Umdeutung zu verteidigen. Dazu ist ganz offensichtlich der Gemeinsinn gesellschaftlich zu stärken bzw. neu zu entwickeln.

Um die Entwicklung und Förderung einer entsprechenden Kultur von Gemeinsinn und Verantwortungsbewusstsein geht es dem Ansatz einer Verantwortungsethik. Dass alles Handeln, auch im Bereich der Wirtschaft, eine soziale Dimension hat, heißt nicht, dass das Individuum und seine ökonomische Verantwortung bedeutungslos werden. Im Gegenteil sind Politik und Gesellschaft auf das Vorhandensein bzw. die Wiedergewinnung sich verantwortlich wissender moralischer Subjekte angewiesen, wie die Vorgänge rund um den zurückgetretenen Bundespräsidenten Wulff, aber auch um den ehemaligen Verteidigungsminister zu Guttenberg gezeigt haben. Es geht aber nicht allein um die verantwortliche Lebens- und Amtführung des Einzelnen, sondern um die Förderung einer sozialen Kultur der Verantwortung.

Über der politischen Forderung nach Gerechtigkeit und der Debatte über einen neuen Begriff der Teilhabe- oder Befähigungsgerechtigkeit darf der Gedanke der Freiheit nicht aus dem Blick geraten. Andernfalls hat auch ein Begriff wie Teilhabegerechtigkeit, für den sich die Kirchen stark machen keinen Sinn.

Die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger stärken

Schaut man daraufhin verschiedene kirchliche Sozialworte der vergangenen Jahre an, so fällt auf, dass häufig zu einseitig "der Staat" als Adressat sozialpolitischer Forderungen angesprochen wird, weniger die Gesellschaft oder die Zivilgesellschaft. Sozialpolitische Forderungen der Kirchen richten sich zumeist an "die politisch Verantwortlichen". Die Forderung nach einem starken Staat steht in einer gewissen Spannung zu der Absicht der Kirchen, das Entstehen zivilgesellschaftlicher Strukturen zu fördern. Zu den Herausforderungen der Gegenwart aber gehört m.E. die Wiedergewinnung und Förderung von Gemeinsinn, der sich in der Bereitschaft von Eigenverantwortung zeigt.

Die Forderung nach vermehrter Eigenverantwortung und das Prinzip der Solidarität müssen sich keineswegs ausschließen, wie die Kommunitarismus-Debatte hinlänglich zeigt. Nicht jedes Reformvorhaben muss gleich als Neoliberalismus gegeißelt werden. Ziel einer sinnvollen Sozialpolitik muss es gerade sein, die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger zu stärken bzw. jene Unterstützung zu geben, die sie benötigen, um zu eigenständiger Verantwortungsübernahme fähig zu werden.

Neben Solidarität und Gerechtigkeit müsste darum nun aber auch der Freiheit größerer Wert beigemessen werden, als es z.B. im gemeinsamen Wort von EKD und deutscher Bischofskonferenz von 1997 geschieht. Gerade in Auseinandersetzung mit neoliberalen Konzepten wäre ein christliches Verständnis von Freiheit zu entwickeln, welche das Wohl des Mitmenschen stets mit im Blick hat. Das wäre m.E. ein wesentlicher Beitrag der evangelischen Kirchen zu einer ökumenischen Sozialethik und zur Förderung der politischen Kultur.


Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich H.J. Körtner ist Vorstand des Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft und des Instituts für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.