Drei Wahlgänge in neuneinhalb Stunden musste Christian Wulff durchstehen, bis er am Abend des 30. Juni 2010, eines heißen Sommertages in Berlin, zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Drei Anläufe brauchte der Niedersachse auch, bis er 2003 Ministerpräsident in Hannover werden und die Rolle des ewigen Herausforderers ablegen konnte. Beirren lassen hat er sich nicht. Durchhaltevermögen gehört zur Grundausstattung eines Berufspolitikers. Nun ist Christian Wulff, der zehnte Bundespräsident, vom höchsten Staatsamt zurückgetreten.
66 Tage nach Beginn der Affären um Kredite, Drohungen gegen Medien und zuletzt einer fragwürdigen Beziehung zwischen Wulff und dem Filmmanager David Groenewold konnte Wulff die Kritik an seiner Person nicht mehr aussitzen. Am Donnerstag beantragte die Staatsanwaltschaft Hannover wegen des Anfangsverdachts der Vorteilsnahme die Aufhebung seiner Immunität - bisher beispiellos in der Geschichte der Bundesrepublik.
Für die schwarz-gelbe Koalition in Berlin ist es der zweite Rücktritt eines Bundespräsidenten in zwei Jahren. Einen Monat vor Wulffs Wahl hatte ein dünnhäutig gewordener Horst Köhler das Schloss Bellevue fluchtartig verlassen und mit seinem Rückzug das ganze Land überrascht. Nun also Wulff, nach einer Amtszeit von gerade mal gut anderthalb Jahren.
"Islam gehört zu Deutschland"
Wenn Wulff die Deutschen je überrascht hat, dann mit seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit in Bremen am 3. Oktober 2010. Dort sagte er den Satz: "Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland." Er verstehe sich als Präsident aller Menschen, die in Deutschland leben, sagte Wulff, selbstverständlich auch der Muslime. Dass das Staatsoberhaupt damit den Islam in eine Reihe mit dem Christentum und dem Judentum stellte, löste eine neue Integrationsdebatte aus.
Als erster Ministerpräsident hatte Wulff 2010 eine Tochter türkischstämmiger Gastarbeiter, die Rechtsanwältin und Vize-Vorsitzende der Hamburger CDU, Aygül Özkan, zu seiner Sozialministerin ernannt. Keine Berührungsängste zeigte er auch, als er sich an einem Mittwochabend im November vier Stunden lang mit Angehörigen der Neonazi-Mordopfer traf. Jetzt müssten die Opfer und ihre Angehörigen in den Mittelpunkt gerückt werden, erklärte er danach und zeigte sich berührt, dass die Hinterbliebenen von der Gesellschaft völlig allein gelassen worden waren.
Wulff selbst ist Katholik - und, nach Heinrich Lübke (1894-1972), erst der zweite Katholik im höchsten Staatsamt. Seinen jüngsten Sohn ließ Wulff indes im Kloster Loccum nahe Hannover evangelisch taufen, weil seine Frau evangelisch ist. Er hatte nach der Scheidung von seiner ersten Frau Christiane, mit der er eine Tochter hat, 2008 die Pressereferentin Bettina Körner geheiratet.
Privataudienz beim Papst
Bevor er ein zweites Mal heiratete, reiste er mit seiner Tochter nach Rom zu einer Privataudienz beim Papst. Als Benedikt XVI. im September Deutschland besuchte, nutzte Wulff die Begrüßung des katholischen Kirchenoberhaupts in seinem Amtssitz, um Reformen anzumahnen - auch in eigener Sache: Die Kirche sei keine Parallelgesellschaft, sagte Wulff. Sie lebe mitten in dieser Welt und werde von ihr herausgefordert. "Wie barmherzig geht sie mit Brüchen in den Lebensgeschichten der Menschen um?", fragte er. Seit seiner Scheidung war er von der Kommunion ausgeschlossen. Wie viele andere Katholiken fordert er Bewegung in dieser Frage.
Wulff ist 52 Jahre alt. Als er zum Bundespräsidenten gewählt wurde, war er mit 51 Jahren der jüngste Amtsinhaber, der jemals ins Schloss Bellevue oder die Bonner Villa Hammerschmidt eingezogen ist. Er brachte eine junge Familie und seine Frau einigen Glanz mit. Glanz gab es in seiner Jugend eher nicht. Wulff ist im kleinbürgerlich-katholischen Milieu in Osnabrück aufgewachsen. Die Eltern trennen sich, als er gerade laufen gelernt hat. Als er 14 ist, wird bei seiner Mutter Multiple Sklerose festgestellt. Wulff pflegt sie und kümmert sich auch um seine sieben Jahre jüngere Schwester Natascha.
Mit Spannung wurde zuletzt Wulffs Auftritt bei der Gedenkfeier für die Opfer der Neonazi-Mordserie am nächsten Donnerstag erwartet. Die Rede bei dem Festakt wird nun Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) halten. Nach Wulffs Rücktritt muss jetzt für die maximal erlaubten 30 Tage bis zur nächsten Bundespräsidentenwahl der Bundesratspräsident, Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU), die Geschäfte des Staatsoberhauptes übernehmen.