Pfarrermangel: Luthers Erben auf Nachwuchssuche
Der theologische Nachwuchs wird knapp. Und das nicht nur bei den Katholiken. Auch die Zahl der evangelischen Pfarramtskandidaten ist in den vergangenen Jahren rückläufig gewesen. Auf der Suche nach den Gründen hat evangelisch.de nicht nur bei den zuständigen Personalreferenten nachgefragt, sondern auch bei denen, um die geworben wird: bei den Schülern auf dem Weg in einen Beruf.

Medial präsent ist der Mangel an nachrückenden Priestern vor allem in der katholischen Kirche. Zölibat und Unterdrückung von Homosexualität, diese beiden Gründe werden dafür gern ins Feld geführt. Doch bedeutet die Analyse im Umkehrschluss, dass evangelische Kirchen keine Nachwuchssorgen haben? Den Zölibat gibt es hier nicht, Homosexualität ist in vielen Landeskirchen auch im Pfarrhaus akzeptiert – also alles in Butter?

Im Gegenteil: Auch die Erben Martin Luthers kämpfen um neue Kollegen. "Wir brauchen Nachwuchs. Jeder, der geeignet ist, kann in unserer Kirche Pfarrer werden", beschwört Präses Rudolf Schulze im Mai 2011 die Synode seiner kurhessischen Kirche in Hofgeismar. Die Studierendenzahlen sind stark rückläufig und damit auch die Zahl derer, die ins Pfarramt drängen. Selbst die Hoffnung, dass der Theologenschwund mit dem Rückgang der Kirchenmitgliederzahlen einhergeht und die pastorale Grundversorgung – für wie viele Gemeindeglieder ist ein Pastor zuständig? – trügt, wie die Prognosen der Ausbildungsreferate in den Kirchenverwaltungen zeigen.

Kirche verliert die Hälfte ihres Personals

Hintergrund ist eine verfehlte Personalpolitik in den 1980er Jahren, an die Schulzes Aufruf fatal erinnert. Vor rund 30 bis 40 Jahren war der Pfarrdienst hoch attraktiv. Neue Geistliche wurden zuhauf in Dienst genommen. Ab 2016 werden große Teile dieser "Pfarrerschwemme" in den Ruhestand gehen – und damit verliert die Kirche innerhalb einer Dekade rund die Hälfte ihres Personals. Diese Lücke können nachrückende Theologen bei aller Anstrengung nicht schließen.

Auf der Suche nach Gründen für die Lustlosigkeit bei Berufsneulingen hört man in den zuständigen Kreisen immer wieder Klagen über die Verweiblichung des Rollenbildes "PfarrerIn". Wer an dieses Arbeitsfeld denkt, der habe vor allem den sozialen Touch vor Augen, als ob der Alltag aus "Kindergottesdienst und Seniorenarbeit" bestünde, so Karin Fries*, Mitarbeiterin am Referat für Personalförderung und Hochschulwesen an einer evangelischen Landeskirche. Für Männer sei das Fach dadurch unattraktiv geworden.

Ihre Wahrnehmung kann Fries auf viele Begegnungen und Gespräche stützen. Ein Vikar, Pfarramtskandidat in der praktischen Phase seiner Ausbildung, habe ihr neulich von seinen Kommilitoninnen berichtet. Viele hätten sich an der Uni nur deshalb für das Pfarramt eingeschrieben, weil das Studium für Grundschullehrer mit einem Numerus Clausus belegt gewesen sei. "Diese Tendenz soll gebrochen werden. Sonst wären die Pfarrerinnen am Ende die neuen Kindergärtnerinnen." Ein gesellschaftlich wichtiger Beruf, der aufgrund des Frauenüberschusses an gesellschaftlicher Akzeptanz verliert – ist das der Weg, auf dem sich das Kirchenpersonal befindet?

"Wir wollen mehr Männer"

"Wir wollen wieder mehr Männer im Studienfach Theologie", betont Fries, "und stellen deshalb den wissenschaftlichen Charakter und die Leitungsfunktion des Pfarramtes wieder deutlicher heraus. Ein Pfarrer führt viele Menschen und trägt große Verantwortung." Nicht zuletzt an den kirchlichen Publikationen für den Arbeitsmarkt sei dies zu erkennen: Auf den Flyern, Broschüren und Bannern lächeln vor allem Männer dem potenziellen Nachwuchs entgegen. "Bei den Tagungen für Interessierte lässt sich auch schon ein Trend beobachten: Hatten wir in den vergangenen Jahren immer deutlich mehr junge Frauen als Männer, so sind die Zahlen in diesem Jahr schon ausgeglichen." Aber liegt das wirklich am Erfolg der Werbemaßnahmen, oder kommt das neue Rollenbild bei der Zielgruppe gar nicht an?

Auf dem 7. Berufsinformationstag an der Pestalozzi-Schule in Idstein ergibt sich ein zweifelhaftes Bild. Der Stand der Theologen – eine Studentin, ein Pfarrer – befindet sich im gleichen Zimmer wie das Fach Psychologie. Zahlreiche Jugendliche und junge Erwachsene seufzen erleichtert, als sie den Raum endlich gefunden haben, wo sie all ihre Fragen loswerden können – bei den Psychologen. Für die Berufe Religionslehrer und Pfarrer interessiert sich fast keiner.

Gezielt auf ihre Vorstellungen hin angesprochen, bestätigt sich unter den jungen Leuten die beklagte Verweiblichung. "Was macht ein Pfarrer? Predigen, Gottesdienste vorbereiten, sich mit allem rund um die Bibel und mit dem Glauben beschäftigen. Auf jeden Fall läuft das eher in der sozialen Schiene, er muss sehr viel Gemeindearbeit machen", behauptet Tobias Grönlund, 19 Jahre alt. Er selbst studiert bereits Sport und Englisch, "und dann will ich noch BWL dazu nehmen, um Sportmanager zu werden". Dass Management auch im Pfarramt eine Rolle spielen könnte, ist ihm nicht bewusst.

Zu wenig abwechslungsreich?

"Für mich ist Theologie auch nichts", bekennt der 16-jährige Jannick Wick. "Lieber würde ich Polizist werden, wenn es sich ergibt. Der Beruf ist abwechslungsreich, man hat viel mit anderen Menschen zu tun, man arbeitet im Team und ist kein Einzelgänger. Außerdem ist man viel draußen und sitzt nicht die ganze Zeit im Büro." Dem Theologen misst er genau diesen Abwechslungsreichtum offenbar nicht zu. Bei den jungen Frauen ist das Interesse größer, auch wenn sich kaum jemand die Berufswahl wirklich vorstellen kann. So wie Doreen Gunkel, 17 Jahre alt. Sie hält Distanz zum Berufsbild "Pfarrerin", obwohl sie schon auf vielen Gemeindefreizeiten der als Teamerin dabei war. "Konfi-Unterricht würde ich total gerne machen, auch den Kindergottesdienst, aber Pfarrer in der Kirche zu sein, das ist mir ein Stück zu krass", gibt sie zu. "Für Seelsorge bin ich nicht belastbar genug. Die Probleme anderer Leute würde ich zu sehr mit nach Hause nehmen."

Dass die Wirklichkeit im Studium eine ganz andere ist und sich keineswegs in der sozialen Komponente erschöpft, betont die Studentin Lisa Gapp im Gespräch mit den Jugendlichen immer wieder. "Da gehört Literaturwissenschaft dazu, Psychologie und Pädagogik. Und man kann sich die Schwerpunkte setzen, die einem Spaß machen! Ich selbst hatte an Geschichte in der Schule überhaupt keinen Spaß. Jetzt belege ich in Kirchengeschichte genau die Kurse, die mich interessieren. Es ist herrlich!" Auch auf ihren späteren Beruf hat sie eine Perspektive, die dem Blick der Ausbildungsreferenten schon eher entspricht: "Man denkt es ja vom Pfarrer eigentlich nicht, aber in diesem Beruf ist man vor allem Manager." Einen männlichen Kandidaten für das Pfarramt konnte sie beim Idsteiner Berufsinformationstag trotzdem nicht werben.

Eine veränderte Selbstdarstellung

Der einzige, der die Bildsprache der Kirchenverwaltung sofort versteht, ist Ulrich Quentin, Vorsitzender des Schuleltern-Beirates an der Pestalozzi-Schule. Als er am Raum der Theologen vorbeigeht, bleibt er stehen und kommentiert die Figuren auf den Werbebannern: "Das sind ja flotte Kerle, mit denen kann man sich gut identifizieren!" Kirche beschreibt sich auf Plakaten mit Gestalten, die so auch für Fächer wie BWL oder Jura stehen könnten. Junge Männer, lässig modisch, vor einem Hintergrund, der vom Lernen spricht. Von Frauen, Senioren, Kindergruppen keine Spur. Quentin, der beruflich viel mit Werbung zu tun hat, erkennt in dieser Art der kirchlichen Selbstdarstellung genau den Paradigmenwechsel, den die Ausbildungsreferenten anstreben: Weg von Kindergottesdienst und Seniorenarbeit, hin zu Führungsverantwortung und Managementqualitäten.

Bei der Zielgruppe selbst sind die Maßnahmen der Kirchenverwaltungen noch nicht ganz angekommen. Mit einem Blick in die Kirchengeschichte können sich die Verantwortlichen freilich trösten. Schon Philipp Jacob Spener (1635–1705) sorgte sich seinerzeit um die nachrückenden Theologen. "Der Pfarrernachwuchs sollte weniger akademisches Fachwissen anhäufen, sich vielmehr den Gemeindegliedern verständlich machen können und einen vorbildlichen Lebenswandel üben." Seine Sorge ist über 300 Jahre alt. In der Zwischenzeit hat es letztlich, so wissen wir heute, trotz aller Höhen und Tiefen immer ausreichend Kirchenpersonal gegeben. Vielleicht ist Speners Anspruch, sich und den christlichen Glauben verständlich machen zu können, am Ende sogar wichtiger als alles Lavieren zwischen männlichen und weiblichen Rollenbildern. Und wichtiger als die Debatte um Zölibat und Homosexualität wahrscheinlich auch.

*Name geändert und der Redaktion bekannt.


Ingo Schütz arbeitet als evangelischer Pfarrer im Taunus. In seinem Kirchspiel ist er Jugendseelsorger und Theatercoach, Networker und Ansprechpartner für Senioren. Tätig ist er zudem als Lehrbeauftragter und Autor.