Wenn Pflegekräfte sich für ihre Patienten schämen
Es ist ein Leben, in dem das Peinliche alltäglich ist. Professionelle Pflegekräfte dringen ständig in die Intimsphäre anderer Menschen ein. Doch über die Scham, die sie dabei empfinden, reden sie nicht. Jetzt packen Forscher das Thema an.
09.02.2012
Von Sebastian Stoll

Die Welt der Pflege ist voller Situationen, in denen Scham entsteht. "An Demenz erkrankte Menschen kennen oft keine Hemmschwelle mehr. Wer in einem Pflegeberuf arbeitet, muss deshalb auch mit Erektionen zurechtkommen", sagt Ursula Immenschuh. Dass dabei Schamgefühle entstehen, liegt auf der Hand. Aber: Es wird viel zu wenig darüber geredet, findet Immenschuh, die an der Katholischen Hochschule Freiburg Pflegewissenschaften lehrt: "Scham in der Pflege ist ein zentrales und dennoch tabuisiertes Thema."

Welche Bedeutung Scham in der Pflege hat und inwiefern Patienten und Personal unter dem Gefühl leiden - das ist das Thema einer Tagung, zu der sich an diesem Freitag Wissenschaftler verschiedener Disziplinen in Freiburg treffen. Unter dem Titel "Menschenwürde und Scham in der Pflege, der Heilpädagogik und der sozialen Arbeit" suchen sie nach Ansätzen, wie die Betroffenen mit Schamgefühlen umgehen können. Ihre Ausgangsthese klingt unspektakulär - und steht doch meist im Widerspruch zum Pflegealltag: Je mehr man darüber redet, desto kleiner wird das Problem.

Wer als Pfleger mit seiner Scham offen umgeht, respektiert seine Patienten

Schamgefühle, über die Pflegefachkräfte mit Kollegen nicht offen reden können, sind nach Ansicht von Experten ein wesentlicher Grund für Konflikte mit den Patienten. "Pflege ist immer auch Arbeit an der Grenze. Man hat zum Beispiel oft mit Körperbereichen zu tun, die eigentlich Tabuzonen sind", sagte Pflegeforscherin Ursula Immenschuh. Würden Fachkräfte solche Situationen nicht reflektieren, drohe eine "negative Scham-Abwehr", so Immenschuh: "Das kann bedeuten, dass jemand sarkastisch wird oder schlecht über einen Patienten redet." Im schlimmsten Fall komme es zur Bloßstellung des Patienten.

Immenschuh empfiehlt, das Personal im Umgang mit Schamgefühlen zu unterstützen: "Es ist wichtig, dass die Pflegenden die Möglichkeit bekommen, diese Gefühle anzusprechen." Ihre Empfindungen dürften nicht tabuisiert werden. "Es ist wichtig, eine Situation benennen zu können und zu sagen: 'Ich schäme mich'." Genau das geschehe aber im Alltag nicht. "Wer hinterher sagt: 'War das eklig heute', der erleichtert sich damit nicht wirklich. Menschen, die in einem Pflegeberuf arbeiten, wollen ja oft etwas Gutes tun. Das geht dann gegen das eigene Ideal." Wichtig sei daher, dass Pflegerinnen und Pflegern mehr Raum gegeben werde, sich der eigenen Schamgefühle bewusstzuwerden, etwa in Seminaren und Supervisionen - auch wenn das den Arbeitgeber Geld koste. Immenschuh: "Fortbildung lohnt sich, weil sie die Gesundheit der Pflegenden schützt und die Qualität im Umgang mit den Patienten steigert."

Als "Arschwischer" beschimpft, leidet das Selbstbewusstein vieler Pflegekräfte

Nötig ist allerdings nicht nur ein Umdenken in der Pflegebranche. Für den Sozialwissenschaftler Stephan Marks liegt das Problem tiefer: "Betreuer und Pflegekräfte gehen täglich mit dem um, was gesellschaftlich als minderwertig gilt: Schwäche, Schmutz, Verunreinigung, Altern und Krankheit." Der Freiburger Schamforscher sieht bei vielen Beschäftigten ein Selbstwertproblem, das auf das öffentliche Bild ihres Berufes zurückgeht. "Viele Pflegekräfte leiden unter geringer gesellschaftlicher Anerkennung und fühlen sich als Arschwischer." Weil es an Akzeptanz ihrer Arbeit mangele, sei es umso wichtiger, Scham erkennen und benennen zu können.

Laut Immenschuh komme es darauf an, das geschulte Mitarbeiter Unangenehmes etwa bei Kontakt mit Kot direkt ansprechen: "Wenn ich Patient wäre, dann würde es mich nerven, wenn jemand sagt: 'Es riecht nicht', obwohl es riecht." Ihr Vorschlag: Man könne einfach sagen: "Ja, es riecht. Aber für Sie mache ich es gern." Schamgefühle in der Pflege sind das auch Thema einer Fachtagung an der Katholischen Hochschule Freiburg. Unter dem Titel "Menschenwürde und Scham in der Pflege, der Heilpädagogik und der sozialen Arbeit" wollen Wissenschaftler verschiedener Disziplinen die Dimension des Problems erörtern und nach Lösungsansätzen suchen.

Großes Kino: Patient und Pfleger können auch "ziemlich beste Freunde" sein

Dass das Thema kein Tabu-Thema bleiben muss, zeigt auch der Erfolg der Sozial-Komödie "Ziemlich beste Freunde". Der Film erzählt die wahre Geschichte einer unwahrscheinlichen Freundschaft zwischen dem reichen, aber querschnittsgelähmten Philippe und seinem Pfleger, dem Senegalsen Driss. Er thematisiert die Scham über die eigene schwere körperliche Behinderung und spricht vermeintliche wie reale Tabus an, die sich mit einer solchen Behinderung auch gegenüber der Pflegkraft einstellen.

epd/evangelisch.de