Liebe Gemeinde,
können Sie glauben, dass dem der glaubt, alle Dinge möglich sind? Ich kann's nicht glauben. Es widerspricht meiner Lebenserfahrung. Vielleicht ist das ein Armutszeugnis unserer hochreflektierten Religion protestantischer Spielart? Jedenfalls ist die Rede vom "Wunder" ausgewandert in die Welt des Sports - wenn etwa ein schon verloren geglaubtes Fußballspiel noch in der letzten Minute aus dem Feuer gerissen wird - in die Welt der populären Massenkultur, der Pop-Songs, der Video- und Werbe-Clips: "Wunder gibt es immer wieder."
Ich aber kann's nicht glauben, dass dem der glaubt, alle Dinge möglich sind. Hier geht es um mehr als um die triviale Auskunft, dass kein Glaube ohne Zweifel denkbar ist. Es geht um meinen Unglauben, der nicht nur als gelegentlicher Zweifel mein frommes Selbstbewusstsein zwickt. Es ist dieser Unglaube an die eigene Kraft des Glaubens, den Martin Luther in dem erstaunlichen Satz bekannte: "Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann." Hören Sie genau hin, was Luther damit sagt: "Ich glaube, dass ich nicht glauben kann."
Ich kann mich nicht zum Glauben entschließen, so wie ich überhaupt nicht über meine Selbstzustände verfüge. Ich kann zwar wollen, etwas zu tun. Es liegt aber außerhalb meiner Entschlusskraft, es auch gern zu tun. Nicht erst bei Gemütszuständen, aber vor allem bei Gemütszuständen ist das Ich nicht Herr im eigenen Haus. Wie Hass oder Verzweiflung stellen sich Liebe oder Vertrauen ein. Nie sind sie das Resultat meines Willens. Das gilt auch für den Glauben.
Die Geschichte von der Heilung des besessenen Knaben
Der Predigtext für den heutigen Sonntag liest sich wie eine narrative Ausfaltung des Lutherschen Satzes. Jedenfalls möchte ich Ihnen diese Lesart der Geschichte von der Heilung eines besessenen Knaben vorschlagen.
Einer aber aus der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Munde und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, daß sie ihn austreiben sollen, und sie konnten's nicht. Er aber antwortete ihnen und sprach: O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir! Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riß er ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund.
Und Jesus fragte seinen Vater: Wie lange ist's, dass ihm das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf. Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn Du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube, hilf meinem Unglauben! Da nun Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein! Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da wie tot, so das die Menge sagte: Er ist tot. Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf; und er stand auf. (Markus 9,17-27)
Glaube als die Bitte um Überwindung des Unglaubens
Wer von uns einmal Zeuge eines epileptischen Anfalls war, wird sich an die Angst und die Hilflosigkeit erinnern, die einen dabei überfällt. Die Angst des Vaters in dieser Geschichte wird freilich vollends nur verständlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, welchen Unterschied es macht, einen solchen Anfall ohne die medizinische Diagnose "Epilepsie" zu erleben und ohne das Wissen, dass es dafür, jedenfalls in gewissen Grenzen, medizinische Hilfe gibt. In der Erzählung vom besessenen Knaben kann niemand, auch Jesus nicht, die Geistesgegenwart ärztlichen Wissens aufbieten. Hier muss es um eine andere Art von Geistesgegenwart gehen. Und recht eigentlich geht es nicht um Heilung, so wie wir sie heute im medizinischen Sinne verstehen, sondern um Rettung vor einer bösen Macht.
Hinzu kommt: Die Angst des Vaters ist nur die Kehrseite seiner Liebe, seine Verzweiflung nur die Kehrseite seines unbedingten Wunsches, sein Kind möge von diesem unheimlichen Unheil gerettet werden. Und in die Bitte um Heilung des Kindes schließt er sich selbst ein: "Erbarm dich unser und hilf uns!" Wie der Dämon seinen Sohn zerreißt, ist der Vater ja selbst zerrissen. Und dieser Mann, dessen Namen wir nicht kennen, sagt einen evangelischen Spitzensatz, und zwar, darauf kommt es an, aus seiner Verzweiflung heraus: "Ich glaube – hilf meinem Unglauben". Ein paradoxer Satz. Paradox auf bestimmte Weise. In der Bitte, dem Unglauben aufzuhelfen, ist ja schon ein vertrauender Glaube eingeschlossen. Glaube als die Bitte um Überwindung des Unglaubens.
Wie ist das möglich? Die Szene zwischen Jesus und dem verzweifelten Vater ist ein einzigartiges Gespräch über Macht und Ohnmacht, Glaube und Unglaube. Zunächst äußert Jesus seinen eigenen Glauben. Die Bitte des Vaters enthielt ja, als einen kleinen Tribut an seinen Zweifel, eine Bedingung: "Wenn du kannst". Was heißt hier "Wenn du kannst"? fragt Jesus zurück. "Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt". Und dann?
Ein schwacher, ein zweifelnder Glaube ist nicht fern von Jesus
Dann belehrt Jesus den Vater nicht über Fragen des Glaubens, sondern lässt ihn, den Vater, an seinem, Jesu, Glauben teilhaben. Mehr durch seine Haltung und sein Handeln als durch sein Reden sagt Jesus zum Vater: Es liegt an dir, mir Vertrauen zu schenken. Er wartet aber nun keine Entscheidung ab, sondern stellt sich gleichsam an die Seite des Vaters, und als diesem kein Glaube möglich scheint, jedenfalls kein zweifelsfreier Glaube, nimmt Jesus auch diesen scheinbaren Unglauben auf sich und glaubt dann zusammen mit dem Vater so, dass das Unmögliche geschieht. Ein schwacher, ein zweifelnder Glaube ist nicht fern von Jesus, sondern ganz nah bei ihm.
In unserem Alltag ist Glaube selten das vorbehaltlose Vertrauen, das religiöse Menschen ihrem Gott gern entgegenbringen würden. Wir alle, auch wenn wir uns als gläubig bezeichnen, schwanken zwischen Glaube und Unglaube oder Halbglaube, zwischen Glaube und Anfechtung, zwischen Glaube und Zweifel. So ist das. Niemand kann aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus als seinen Herrn glauben oder zu ihm kommen. Natürlich: Der Vater des besessenen Knaben kommt zu Jesus. Aber doch nicht mit der prallen Gewissheit eines guten Endes. Voll eines unbändigen Wunsches, und voller Zweifel. Aber dann kommt Jesus zu ihm, kommt ihm zu Hilfe und erwartet gerade kein selbstgewisses Glaubensbekenntnis. Ganz realistisch und ganz fromm gesagt: Jesus kommt zu uns.
Das zieht sich durch alle Jesusgeschichten, die im Neuen Testament überliefert sind, wie ein roter Faden. Jesus hält nicht auftrumpfend Anderen sein Gottesbewusstsein entgegen, sondern verwickelt Menschen in eine Beziehung zu Gott, indem er die Sehnsucht nach Gottes Gegenwart als Bitte, oft geradezu als kindliche Bitte zu äußern lehrt. So etwa, wenn er die Menschen beten lehrt. Und eben in der Bitte – beim Vater des besessenen Knaben: im Schrei – um Hilfe, scheint Gottes Gegenwart auf. Anders als in dieser Bitte kann Gottes Gegenwart gar nicht aufscheinen. Mit unserer Bitte um Hilfe, geradezu: durch unsere Bitte dürfen wir uns von Jesus in das Kindschaftsverhältnis zum Vater im Himmel hineingenommen fühlen.
"Puto" und "credo" darf nicht verwechselt werden
Was müssen Christen glauben? Welche Bekenntnissätze müssen sie unterschreiben, um Christ sein zu können? Der christliche Glaube ist kein Proviantsack fürs Leben, in den möglichst viele Glaubensgegenstände gepackt werden, nach dem Motto, je mehr wir glauben, desto praller und fester sei unser Glaube. Überhaupt geht es zuerst nicht darum, was ich glaube, sondern wem ich glaube. Wem vertraue ich im Leben und im Sterben?
Religiöse Sätze sind keine Vermutungen oder Unterstellungen über einen uns gar nicht oder nur über besondere – "supranaturale" – Mitteilungen zugänglichen Teil der Welt. Keine Zumutung, eine Hinterwelt für real zu halten. Der Satz "ich glaube" gehört gar nicht in die grammatische Gegend der Vermutungen. Er steht nicht auf einer Skala, die vom Wissen zum bloßen Meinen reicht. Wenn dagegen die kategorial unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen von lateinisch puto ("ich glaube" im Sinne von "ich vermute") und lateinisch credo ("ich vertraue") nicht verwechselt werden, dann ergibt sich daraus auch die Möglichkeit der Einsicht, dass Gott im Modus des credo kein Objekt eines Wissens oder einer Vermutung ist, sondern der Adressat eines Vertrauens. Und Jesus ist nicht nur der Adressat des Vertrauens, sondern der, der uns in sein Gottvertrauen mit hinein nimmt. Dadurch wird er für uns zum Christus.
Am Ende richtet Jesus, so erzählt es Markus, den Knaben auf. Aufrichtig sein geht nur als aufgerichtet sein. Aufrichtig sind wir im Vertrauen darauf, von Gott aufgerichtet zu sein. Und es ist eben dieses Vertrauen, dass wir nicht aus eigener Kraft aufbieten können, sondern um das wir immer wieder neu bitten müssen. Und das sich in der Bitte, der zweifelnden Bitte, angemessener ausdrückt als im emphatischen Bekenntnis einer zweifelsfreien Gewissheit.
Amen.
Prof. Dr. Bernhard Dressler lehrt Praktische Theologie an der Philipps-Universität Marburg. Diese Predigt zu Markus 9, 17-27 hat er am 16. Oktober 2011 vor Studierenden in Hofgeismar gehalten.