"Für den dritten Platz auf der Liste zur Wahl der Verbandsversammlung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen schlagen wir unseren seit der Geburt linken Genossen Keyvan Dahesch vor." Dieser Satz im Brief des damaligen SPD-Fraktionschefs im Frankfurter Stadtparlament Hans Michel an das Gremium für die Kandidatenaufstellung löste in den Medien scherzhafte Bemerkungen aus. Tenor: Wer in der SPD Frankfurt Karriere machen will, muss Wohl von Geburt an auf der linken Seite groß werden.
Aber nein: Mir sind nicht etwa linke Auffassungen in die Wiege gelegt worden. Ich bin ohne Sehkraft in der iranischen Hauptstadt Teheran am 26. Dezember 1941 zur Welt gekommen. Beim eilig diktierten und nicht Korrektur gelesenen Brief war das Wort "blinden" gegen "linken" vertauscht worden.
Hätte man meinen Eltern in Teheran, als sie vor 60 Jahren mein Handicap bemerkten und laut zu weinen begannen, einen solchen Wahlvorschlag und andere berufliche und gesellschaftliche Erfolge in meinem Leben prophezeit, wären Sie sich auf den Arm genommen vorgekommen. Denn obwohl sie zur Bildungsschicht gehörten, konnten sie sich keine anderen Lern- und Arbeitsmöglichkeiten für ihr blindes Kind vorstellen als ein einfaches Musikinstrument zu spielen.
Vitaminspritzen sollten dem Jungen helfen
Da ich als Kind noch hell und dunkel unterscheiden konnte und meine Augen keine Schäden aufwiesen, führten die Ärzte das Handicap auf Vitamin- und Kalziummangel zurück. Über viele Jahre musste ich entsprechende Spritzen ertragen. In der Schule für nicht behinderte Menschen gab es keinerlei Förderung. Ich hörte nur dem zu, was die Lehrer sagten.
Keyvan Dahesch. Foto: privat
Lediglich die persischsprachigen Sendungen der Sender BBC und Stimme Amerikas, die ich eifrig hörte, vermittelten mir etwas Bildung. Daher unterstreiche ich aus voller Überzeugung den Satz: "Das Auge führt den Menschen in die Welt, das Ohr bringt die Welt in den Menschen."
An diese Feststellung des Autors, Jazz-Experten und erfolgreichen Radiomachers der ersten Stunde nach 1945 in Deutschland, Joachim-Ernst Berendt, denke ich immer wieder, wenn mir diverse Geräusche Umwelt und Natur näher bringen oder eine wohlklingende Stimme eindrücklich etwas erklärt.
Auf Drängen unserer wenig gebildeten Verwandten wurde ich als achtjähriges Kind innerhalb eines Jahres zweimal eine ganze Nacht an die mit Gold und Silber geschmückte Umrandung des Grabes des 8. Imam und Nachkömmlings von Mohammed in Meschhed gebunden. Sie hofften, er würde meine Augen heilen. Doch davon konnte keine Rede sein. Weitere derartige Reisen blieben mir durch die berufliche Versetzung meines Vaters in die rund 1500 Kilometer entfernte Stadt Täbris erspart.
Hörbücher als Gefährten auf dem Lebensweg
Als meine Eltern in ihrer Verzweiflung mich zur Heilung durch die in Iran als besonders kompetent angesehenen deutschen Ärzte in die Bundesrepublik bringen wollten, suchten Sie nach einer Möglichkeit, mir etwas Deutsch beizubringen. Da erfuhren wir von der vom deutschen Pastor Ernst Jakob Christoffel in Isfahan gegründeten, damals einzigen Blindenschule in diesem Entwicklungsland.
Dort lernte ich einige Monate Deutsch und machte mit der Blindenschrift Bekanntschaft. Richtig schreiben und lesen lernte ich aber erst in der Bundesrepublik, nachdem die Chefärzte der Universitätsaugenkliniken in Tübingen, Stuttgart und Frankfurt 1958 meine Blindheit als unheilbar bezeichneten.
Neben der aus sechs Punkten bestehenden Schrift, eine geniale Erfindung des Franzosen Louis Braille, mit der für Menschen ohne Augenlicht weltweit das Tor zur Bildung aufgestoßen wurde, prägten die Hörbücher meinen weiteren Werdegang entscheidend.
Masseur mit prominenten Kunden
Um niemandem zur Last zu fallen, absolvierte ich nach der Blindenschule 1960 eine zweieinhalbjährige Ausbildung zum staatlich geprüften Masseur und medizinischen Bademeister in der Orthopädischen Universitätsklinik in Frankfurt und übte diesen Beruf bis 1971 in mehreren Kliniken und anderen medizinischen Einrichtungen von Bad Dürrheim im Schwarzwald bis Wyk auf Föhr aus. Zu meinen teils prominenten Patienten zählten 1964 Oskar Schindler und 1968 der damalige Bundesbankpräsident Karl Blessing.
Im Dezember 1966 heiratete ich meine stark sehbehinderte Frau Anni in einer evangelischen Kirche in Frankfurt. 2006 gründeten wir die gemeinnützige Anni und Keyvan Dahesch-Stiftung zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung, denen die öffentliche Hand nicht helfen kann.
Die Früchte meiner ständigen Weiterbildung in der Freizeit könnte ich durch bestandene Aufnahmeprüfung für ein komprimiertes Studium der Soziologie, Volkswirtschaft und Arbeitsrecht an der heute Europäischen Akademie der Arbeit in der Frankfurter Goethe-Universität ernten. Die Ausbildung zum Diplomverwaltungswirt beim Hessischen Verwaltungsschulverband und anschließende Journalisten-Lehrgänge bei der Nachrichtenagentur dpa und dem Hessischen Rundfunk eröffneten mir neue berufliche und gesellschaftliche Perspektiven.
Hilfe holen, wo Hilfe nötig ist
Bis Ende Januar 2002 arbeitete ich als Bürgerbeauftragter und Pressesprecher beim Hessischen Landesamt für Versorgung und Soziales in Frankfurt. Zudem bin ich noch heute als Publizist und freier Journalist für mehrere Zeitungen und Rundfunkanstalten tätig.
Fest steht aber auch: Trotz längerem Mobilitätstraining und modernster Hilfsmittel komme ich ohne menschliche Hilfe nicht aus. Am meisten bekomme ich sie von meiner Frau, die selbst seit dem zwölften Lebensjahr mit zunehmender Sehbehinderung fertigwerden muss. Sie weiß, welche Kleidungsstücke farblich zueinanderpassen und mir gut stehen.
Auch Fahrradfahren kann ich nicht alleine - zu zweit auf einem Tandem immer. So habe ich trotz völliger Blindheit auf einem Drahtesel beispielsweise den Donaustrand in zwei Etappen von Donaueschingen bis Wien erleben dürfen. In einem Segelboot hat mir ein doppelt beinamputierter Mann auf dem Bodensee die richtige Richtung angesagt: Ich habe das Boot gesteuert.
Und schließlich nicht zu vergessen: Ohne sehende Begleitung kann ich mich auch in keiner Veranstaltung zurechtfinden. So ist es bei aller Selbstständigkeit ein Teil meines Alltags, mir Hilfe zu holen, wo es nötig ist. Ich muss nicht alles partout allein meistern. Mir scheint, diese Erkenntnis fällt manchem Sehenden schwerer als mir.
Mitglied der Bundesversammlung
An zwei gesellschaftliche Erfolge in meinem Leben denke ich gern zurück: Am 23. Mai 1994 durfte ich in der zehnten Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten in Berlin als erstes von Geburt an blindes Mitglied eines solchen Gremiums den Bundespräsidenten mitwählen. Und von 1979 bis 1982 war ich der erste blinde Ortsvereinsvorsitzende einer der politischen Parteien in der Bundesrepublik.
Was mich besonders freute: Während die meisten Mitglieder der SPD wegen der erbitterten Auseinandersetzungen um die Erweiterung des Frankfurter Flughafens je nach Einstellung scharenweise aus der SPD aus- oder in die CDU oder die Grünen übertraten, verzeichnete mein Ortsverein in dem historischen Stadtteil Frankfurt-Bonames neue Zugänge.
Chancen bekommen – und genutzt
Das Ergebnis eines vom Stadtteil initiierten und von Bürgerinnen und Bürgern intensiv mitgestalteten Fotowettbewerbs präsentierten meine sehbehinderte Ehefrau und ich beim Bundesparteitag der SPD 1982 in der Münchner Olympiahalle. Bundeskanzler Helmut Schmidt weilte längere Zeit an unserem Stand und fragte nach Einzelheiten, vor allem, ob der abgebildete Storch noch lebe. "Leider nicht", sagten wir.
Ich bin jetzt 70 Jahre alt. Mein Glaubensbekenntnis besteht aus zwei Sätzen: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu!" und "Ich verehre jede Religion, die mich nicht verdammt, wenn ich sie nicht verehre!"
Nach dem fünften Integrationsgipfel der Bundesregierung mit den leider mageren Ergebnissen im Januar 2012 appelliere ich an Gesellschaft, Kirche und Staat, Menschen mit Migrationshintergrund und/oder auch schwerstem Handicap eine Chance zu geben, ihre Fähigkeiten und Leistungen zu entfalten. Mir ist trotz beider Handicaps dieses Glück zuteil geworden.
Keyvan Dahesch lebt und arbeitet als Journalist in Frankfurt am Main.