Herr Wegner, was bedeutet "Arbeit" aus evangelischer Sicht? Ist Arbeit etwas Notwendiges oder auch etwas Schönes?
Gerhard Wegner: Arbeit ist, wenn es gut läuft, etwas Sinnstiftendes. Indem ich arbeite, bin ich beteiligt an meiner Selbstverwirklichung, an der gesellschaftlichen Wertschöpfung, finde ich. Sie stiftet Beziehung zu anderen Menschen. Das sind alles Kategorien, die ganz stark an Arbeit gekoppelt sind, und zwar in der Realität unserer Gesellschaft manchmal noch sehr viel mehr als im protestantischen Verständnis. Ohne Arbeit finden Menschen manchmal wenig Ordnung im Leben. Wenn sie lange arbeitslos sind, kann das zu Depressionen führen. Arbeit ist fast zu einem Lebensmittel für uns geworden, und deswegen hat sie große Bedeutung.
Das Gesetz zur Rente ist beschlossen und in Kraft: Wer 1964 oder später geboren ist, kann erst mit 67 in Rente gehen. Finden Sie das Gesetz richtig?
Wegner: Die Erweiterung von Arbeit über die 65 Jahre hinaus ist prinzipiell richtig, und zwar von einem übergeordneten Gesichtspunkt her. Die gesetzliche Altersgrenze 65 wurde erst 1920 eingeführt. Da lag die Lebenserwartung für Jungen bei 58 Jahren und für Mädchen bei 65 Jahren. Viele erreichten nicht einmal die Altersgrenze für den Bezug einer Rente. Bei anderen war es kurz vor dem Lebensende. Wenn heute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit 65 ausscheiden, dann haben sie noch 15 bis 20 Jahre vor sich, manchmal sogar noch mehr Jahre - also noch einen ganzen Lebensabschnitt. Und deswegen wird diese Grenze von 65 Jahren zunehmend als ein willkürlicher Einschnitt erlebt. Immer mehr ältere Menschen fragen sich: 'Wieso darf ich denn nicht mehr arbeiten?' Das ist doch absurd. Viele möchten gern länger arbeiten, und deswegen soll man das auch ermöglichen.
[listbox:title=Mehr im Netz[Vortrag von Gerhard Wegner: "Wie kann Arbeit altersgerecht gestaltet werden?"##Das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD##Die Fastenaktion "7 Wochen ohne..."##Bibeltext zum Thema "Versorgt genug", Matthäus 6, 25-33##Publikation des Statistischen Bundesamtes: Ältere Menschen in der EU##Informationen der Deutschen Rentenversicherung zur Rente mit 67##Argumente des Deutschen Gewerkschaftsbundes gegen die Rente mit 67]]
Eine andere Frage in diesem Zusammenhang ist die nach der Rentenzahlung. Da bin ich der Meinung, man sollte die Rentenzahlung an eine festzulegende Lebensarbeitszeit koppeln. So lange muss jemand gearbeitet haben, bis er dann angemessene Rente bekommt. Aber wann er diese Jahre erbringt, das ist ihm selbst anheim gestellt. Das heißt, es muss niemand mit 65 oder 67 aufhören, man kann auch länger arbeiten. Vielleicht kommt man aber auch schon früher auf diese Zeit - und kann sich dann schon früher vom Berufsleben verabschieden. So würde ich das Ganze flexibilisieren. Die Leistungsfähigkeit der Menschen hat heute immer weniger mit ihrem Lebensalter zu tun.
Welche Vorteile bringt ein älterer Arbeitnehmer für seine Firma?
Wegner: Früher sind im Zweifel immer jüngere Arbeitnehmer eingestellt worden, weil man der Meinung war, dass Jüngere den Belastungen und dem Stress standhalten und Ältere gar nicht mehr mithalten können. Das hat man heute völlig revidiert. Man weiß, dass ältere Arbeitnehmer anders arbeiten als jüngere, sie haben andere Kompetenzen. Zum Beispiel verfügen sie häufig über größere soziale Kompetenzen, über eine stärkere Gelassenheit und sie haben Erfahrung mit Grenzsituationen. Sie können vielleicht in bestimmten Bereichen nicht mehr ganz so schnell arbeiten, aber dafür sorgfältiger. In der Wirtschaft ist man dazu übergegangen, altersgemischte Teams zu fördern und wertzuschätzen, weil das insgesamt eine hohe Leistungsfähigkeit und Produktivität mit sich bringt. Man ergänzt sich gut.
"Viele Menschen haben auch keine
Lust mehr zu arbeiten
oder halten den Druck nicht mehr aus"
Das tatsächliche Renteneintrittsalter ist ja in Deutschland gestiegen, liegt aber laut Bundesagentur für Arbeit bei 63,5 Jahren und damit unter dem gesetzlichen Renteneintrittsalter. Das Statistische Bundesamt hat außerdem ermittelt, dass nur vier Prozent der Menschen auch nach dem 65. Geburtstag noch erwerbstätig sind. Das heißt doch, die Menschen können oder wollen offenbar nicht länger arbeiten.
Wegner: Es ist heute sehr schwierig, nach dem 65. Lebensjahr noch voll erwerbstätig zu sein. Vielen wird nahegelegt, zu gehen, das erscheint manchen wie eine Zwangspensionierung. Nur wenige Berufe haben es bisher geschafft, die Altersgrenze völlig abzuschaffen. Für Praxisärzte ist sie zum Beispiel inzwischen aufgehoben, und bei den Professoren steht die Aufhebung kurz bevor, in einzelnen Bundesländern ist es schon passiert. Aber natürlich haben auch viele Menschen keine Lust mehr zu arbeiten oder halten den Druck nicht mehr aus. Die moderne Arbeitswelt ist zu wenig darauf eingerichtet, Menschen bis ins Alter hinein gesund und aktiv zu halten. Die Menschen werden zu sehr ausgezehrt. Viele sind deswegen bereits um die 55 Jahre ausgelaugt. Wollen wir längere Arbeitszeiten, dann muss sich das ändern.
Was sind aus Ihrer Sicht Voraussetzungen dafür, dass man so lange fit und arbeitsfähig bleibt, wie man möchte? Was kann man selbst und was kann die Gesellschaft dafür tun?
Wegner: Da gibt es verschiedene Faktoren. Zum einen muss sich in der Gesellschaft das Bild vom Alter gehörig wandeln. Es gab einen Jugendwahn in der Gesellschaft, und der ist auch noch nicht überwunden. Wir müssen Ältere anders wertschätzten, sie sollten einen besseren Platz in der Gesellschaft bekommen, das ist ganz wesentlich.
[listbox:title=Ältere in Arbeit[Immer mehr Ältere in Deutschland arbeiten bis kurz vor Erreichen des Renteneintrittsalters. Von den 60- bis 64-Jährigen waren dies 2010 noch 40,8 Prozent - zehn Jahre zuvor erst 19,9 Prozent. Dies geht aus einem Bericht des Bundesarbeitsministeriums über Fortschritte auf dem Arbeitsmarkt für Ältere hervor.## In der Erwerbstätigenquote von 40,8 Prozent sind allerdings auch rund 800.000 Mini-Jobber enthalten - mit steigender Tendenz. Auch die Selbstständigen werden bei der allgemeinen Erwerbstätigenquote eingerechnet. Bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sind nur 27,5 Prozent der 60- bis 64-Jährigen noch in Arbeit - während dies von den 15- bis 65-Jährigen insgesamt 52,1 Prozent sind. Allerdings ist auch hier die Quote der älteren Beschäftigten leicht gestiegen.## Mit Blick auf die Rente mit 67 sagte Arbeitsministerin von der Leyen: "Unser Ziel ist, dass Arbeit auch für Menschen über 60 der Normalfall wird." Die von der großen Koalition 2006 beschlossene Rente mit 67 wird stufenweise eingeführt und soll ab 2029 für alle ausscheidenden Arbeitnehmern verbindlich werden.(dpa)]]
Dann kommt hinzu, dass man in den Unternehmen gezielt altersgerechte Arbeitsplätze einrichten muss. Insbesondere in der Industrie und auch anderswo kann noch eine Menge getan werden. Das hängt auch sehr mit Gesundheitsmanagement zusammen. Wir beobachten das Phänomen, dass in der Arbeitswelt viele Menschen etwa ab 55 den Spaß an der Arbeit verlieren. Das hat mit psychischen Belastungen, mit Stress-Phänomenen zu tun. In den Betrieben sollte sorgsamer und achtsamer mit den Menschen umgegangen werden, dafür braucht es vielfältige Regelungen.
Zum Beispiel was die dauernde Erreichbarkeit und Verfügbarkeit betrifft, das geht zu Lasten der Gesundheit. Bei VW hat man jüngst zum Beispiel eine Dienstvereinbarung geschlossen, so dass die dienstlichen Handys nur noch eine halbe Stunde nach Dienstschluss laufen und dann der Server abgeschaltet wird. Das bedeutet eine Entlastung für die Mitarbeiter. Das ist eine von vielen Maßnahmen, die helfen können, dass Menschen gerne und gut arbeiten. Es geht darum Grenzen zu setzen und Pausen einzuhalten. Eine Humanisierung der Arbeit kommt den Älteren zugute, und sie muss erfolgen, wenn man will, dass Menschen bis 67 im Beruf tätig und leistungsfähig sind. Das ist ganz entscheidend.
Sie haben ein Modell der "lebenszyklischen Arbeitszeitumverteilung" entwickelt. Ältere arbeiten demnach länger, und Jüngere haben dafür in der "Rushhour des Lebens" Zeit für die Familiengründung. Wie soll das denn finanziell gestaltet werden? Die Jungen brauchen doch in dem Moment das Geld…
Wegner: Ja natürlich. Die Idee bei diesem Lebensarbeitszeitmodell ist, dass man bis zur Erreichung einer angemessenen Rente eine bestimmte Zahl von Lebensjahren arbeitet, danach aber weiter arbeiten kann. Viele, vor allem höher Qualifizierte, möchten das ja auch gern tun. Wenn man weiter arbeitet, so meine Vision, bekommt man dafür aber später keine höhere gesetzliche Rente ausbezahlt, sondern diese Anwartschaft würde als Solidarausgleich denen zugutekommen, die eine Minirente haben oder eben jüngere Menschen, die Familien gründen. Deren Einkommen könnte so aufgestockt werden. Das wäre ein solidarischer Lastenausgleich und ein Beitrag, um das demografische Problem etwas abzumildern.
"Ich wünsche mir, dass ich später meine
Fähigkeiten und Kompetenzen
auch möglichst lange einbringen kann"
Ein freiwilliger Beitrag? Die gut Verdienenden, die weiter arbeiten, sollen also etwas von dem abgeben, was ihnen zusteht?
Wegner: Man sollte es erst einmal freiwillig versuchen. Aber ich könnte mir auch vorstellen, dass man das gesetzlich regeln kann. Es besteht keine Notwendigkeit, dass jemand, der bis 80 arbeitet, danach eine Maximalrente bekommt. Das betrifft jedenfalls die gesetzliche Rente. Privat kann sich ja jeder gerne noch zusätzlich absichern. Es wäre also ein solidarisches Konzept, das, so glaube ich, den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und uns allen nützen würde.
Herr Wegner, bis zu welchem Alter wollen Sie selbst arbeiten, und wie stellen Sie sich Ihre letzten Arbeitsjahre vor?
Wegner: Naja, ich würde schon gerne lange arbeiten - wie lange, weiß ich nicht genau. Mein Vorgänger im Institut, Professor Karl Fritz Daiber, ist im vergangenen Jahr 80 geworden. Er ist immer noch aktiv. Er ist zwar nicht mehr bei der Kirche beschäftigt, aber er unternimmt Forschungsreisen nach Asien, schreibt Bücher, hält Vorlesungen und hat uns im Institut noch geholfen. So etwas würde ich auch gerne machen. Seine Kompetenzen sind für uns alle so wertvoll, dass wir sie im SI sie auf keinen Fall missen möchten. Und ich wünsche mir, dass ich später meine Fähigkeiten und Kompetenzen auch möglichst lange einbringen kann, damit andere Menschen davon etwas haben.
Prof. Dr. Gerhard Wegner ist Theologe. Er leitet das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (SI) in Hannover. (Foto: SI/Michael Huisgen/Coppenbrügge)