Libyens Milizen sind friedlich geworden
Sie tragen automatische Waffen, kontrollieren Zufahrtsstraßen und kleiden sich wie Action-Helden. Doch die libyschen Milizen sind eher handzahm. Als abschreckendes Beispiel für Syrien taugen sie nicht.
07.02.2012
Von Anne-Beatrice Clasmann

Wenn Diplomaten in diesen Tagen über die Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens in Syrien debattieren, fällt immer wieder das Stichwort "Libyen". Die Gegner einer Intervention in Syrien führen dabei gerne aus, dass Libyen auch heute - mehr als drei Monate nach dem Tod des Langzeitdiktators Muammar al-Gaddafi - von Milizen kontrolliert werde, die bis an die Zähne bewaffnet sind. Sie sagen, die Gefahr eines Bürgerkrieges zwischen den verschiedenen Stämmen in Libyen sei noch nicht gebannt. Und den Syrern drohe das gleiche Schicksal, wenn das Regime von Baschar al-Assad zerfallen sollte. Sunniten, Alawiten, Kurden und Christen würden einander nach dem Sturz des Regimes rücksichtslos bekämpfen.

Doch taugt Libyen überhaupt als abschreckendes Beispiel? Wie viele Ex-Revolutionäre in Libyen noch mit ihren Waffen im Einsatz sind, kann niemand genau sagen. Mehr als 50.000 Mann sind es sicherlich noch. In den vergangenen Monaten haben einige von ihnen die Waffen aus der Kriegszeit benutzt, um persönliche Rechnungen zu begleichen oder sich an ehemaligen Gaddafi-Anhängern zu rächen.

Bedenkt man jedoch, wie viele Waffen in Libyen derzeit im Umlauf sind, wundert man sich eher, wie friedlich es zugeht. Das liegt unter anderem an den gefestigten Strukturen einer Gesellschaft, in der Alter und Status wichtiger sind als politische Ämter.

"Kriegsverbrecher müssen von der neuen Justiz ohne Gnade verfolgt werden"

Als es vor einigen Tagen in der ehemaligen Gaddafi-Hochburg Bani Walid zu einem Gefecht kam, nachdem sich eine Brigade geweigert hatte, mutmaßliche Kriegsgefangene auszuliefern, machten die 170 "Revolutionsbrigadisten" der Nachbarstadt Misrata mobil. Mit Geländewagen und Maschinengewehren fuhren sie in Richtung Bani Walid. Doch der Militärrat von Misrata, die im Krieg fast 2.000 Menschen verloren hatte, stoppte sie. Man wolle das Problem durch Verhandlungen lösen, hieß es. Die jungen Männer, die mit ihren Fantasieuniformen und Patronengürteln aussehen wie aus einem amerikanischen Action-Streifen, gehorchten.

Auch der Fabrikbesitzer Mohammed Ibrahim (47), der während des Krieges Sprecher des Rebellenkommandos von Misrata war, ist gegen jede Eskalation. "Zwischen Bani Walid und Misrata gibt es alte Empfindlichkeiten, deshalb hatten sich unsere Brigaden auch aus den Kämpfen in Bani Walid herausgehalten. Wir haben das den Kämpfern aus Sintan und Tripolis überlassen damals im Oktober, denn wir wollen in Frieden mit unseren Nachbarn leben", sagt er.

Leicht fällt es ihm jedoch nicht, zu verzeihen. Sein Bruder wurde während der Kämpfe gefangen genommen und nach Tripolis verschleppt. Dort töteten ihn die Brigaden des Diktators kurz vor dem Einmarsch der Rebellen. Sein 19 Jahre alter Sohn verlor im Kampf ein Bein. In Köln wird dem jungen Mann derzeit eine Prothese angepasst. Doch Ibrahim hält nichts von Rache an früheren Gaddafi-Kämpfern. "Wir haben gegeneinander gekämpft, aber solange jemand keine Gefangenen erschossen oder Frauen vergewaltigt hat, gibt es keinen Grund, die Kämpfer der Gegenseite zu bestrafen", erklärt er. Kriegsverbrecher müssten jedoch von der neuen Justiz, die sich noch im Aufbau befindet, ohne Gnade verfolgt werden.

Einmal die Woche mit der Waffe "zum Dienst"

Die Brigaden aus der Küstenstadt Misrata, die von Gaddafis Truppen monatelang abgeriegelt worden war, sind von Clans und Bewohnern einzelner Stadtteile gegründet worden. Einige von ihnen haben nur zwei Dutzend Mitglieder. Die größte von ihnen - die Brigade Mohammed al-Halbus - hatte zeitweise 1.800 Mann unter Waffen. Die meisten bewaffneten Revolutionäre sind momentan dabei, ihre Zukunft als Studenten, Angestellte oder Geschäftsleute zu planen.

Aus der Konvoi-Brigade, einer kleinen Brigade mit 70 Mitgliedern in Misrata, haben sich nur 15 Mann für den Dienst in Armee oder Polizei gemeldet. Die beiden Kommandeure der Brigade waren an dem Tag, an dem die Rebellen Gaddafi aufspürten und töteten, in Sirte erschossen worden. Auch sie hatten, wie die meisten Kämpfer, keine militärische Vorbildung.

Ahmed al-Saddik al-Huta (32) hatte sich der Brigade in den ersten Kriegstagen angeschlossen. Heute arbeitet er wieder als Lastwagenfahrer. Nur einmal die Woche erscheint er noch mit seiner Waffe "zum Dienst". Seine Aufgabe ist es, das Gebäude des lokalen Radiosenders von Misrata zu bewachen. "Die Lage wird von Tag zu Tag besser, aber solange es keine richtige Regierung und keine Polizei gibt, werden wir unsere Waffen behalten", sagt er.

dpa