Spenderherz: "Sie brauchen eine neue Pumpe"
Als er die Nachricht bekommt, ist es ein Schock: Nikolaus Dominik braucht ein neues Herz. 24 Stunden, wochenlang muss er nun auf der Intensivstation verbringen und um ein neues Organ bangen. Sein Zustand verschlechtert sich rapide. Dann stürmen die Ärzte ins Zimmer: Es gibt ein passendes Herz für ihn. Der Journalist schreibt über die Angst, das Warten und die Dankbarkeit nach dem geglückten Eingriff.
03.02.2012
Von Nikolaus Dominik

Mir wird schwindelig. Der Boden scheint sich meinen Füßen zu entziehen. "Ich sag’s Ihnen ganz offen: Sie brauchen ein neues Herz." Der Münchner Herzchirurg Bruno Reichart sitzt an seinem Schreibtisch und erläutert mir ruhig und sachlich das Untersuchungsergebnis. Ich zittere. "Ihre rechte Herzkammer ist zu groß, die Herzklappe flattert, schließt nicht mehr, da ist nichts zu machen. Sie brauchen eine neue Pumpe." In der medizinischen Fachsprache heißt das: "Terminale Herzinsuffizienz bei abgelaufener Myokarditis mit hochgradig eingeschränkter rechtsventrikulärer Insuffizienz".

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Bei meinem kranken Herzen besteht jederzeit die Gefahr eines Stillstands. Für die dringend notwendige Transplantation steht kein passendes Organ zu Verfügung, das heißt Warten. Warten auf den Tod eines Menschen, um zu überleben. Ein Hoffen und Bangen beginnt. Wir warten zu viert. Ein junger Mann aus Nordbayern muss über sechs Monate ausharren, bis er ein neues Herz bekommt. Eine ältere Frau ist bettlägerig. Einen weiteren Patienten verliere ich irgendwann aus den Augen. Mir geht es mit fast 60 Jahren noch recht gut.

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In der zweiten Nacht träume ich, ein Herz sei für mich da - nur ein Traum. Nach zwei Wochen wächst die Ungeduld, die Tage später in Resignation umschlägt. Wachnächte mit quälenden Gedanken stellen sich ein. Bald helfen nur noch Schlaftabletten für ruhige Nächte. Und dann ein zweiter Schock. In der Nacht ist die ältere Patientin von nebenan gestorben, gestorben auf der Warteliste. Bin ich der nächste? Wie lange dauert es noch? In der Zeitung lese ich Unfallnachrichten mit dem verzweifelten Wunsch, ein Spender könnte für mich darunter sein.

Als Transplantationskandidat muss ich 24 Stunden auf der Intensivstation liegen

Als Transplantationskandidat muss ich 24 Stunden auf der Intensivstation liegen, Tag und Nacht fast ununterbrochen verkabelt am Monitor. Zusätzlich müssen die Ärzte regelmäßig die wichtigsten Labordaten an das europäische Transplantationszentrum (Euro-Transplant) im niederländischen Leiden senden, damit dort unabhängige Spezialisten entscheiden können, wie dringend der Patient ein neues Organ braucht. Nur wer die "höchste Dringlichkeit" (High-Urgency-Status) zugeschrieben bekommt, hat Chancen auf eine baldige Transplantation. Ich stehe auf der Liste ganz oben.

Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) deutschlandweit 4.054 Patienten mit einem Spenderorgan versorgt, 272 weniger als im Jahr davor. Mehr als 12.000 Patienten warten derzeit in Deutschland auf ein Organ, die meisten auf eine Niere. Ein Grund für den Rückgang der Organspenden sind Experten zufolge auch zunehmende Patientenverfügungen. Darin werden lebenserhaltende und intensivmedizinische Maßnahmen in aussichtslosen Fällen abgelehnt. Spenderorgane können bei einem Hirntod aber nur mit Hilfe der Intensivmedizin für eine Verpflanzung gewonnen werden.

Täglich sterben nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie drei Patienten auf der Warteliste für eine lebensrettende Transplantation. Auf eine Million Einwohner kommen in Deutschland 15 Organspender, in Spanien etwa 34.

Für mich vergehen Wochen auf der Intensivstation

Für mich vergehen Wochen auf der Intensivstation. Euro-Transplant fordert eine weitere Herzkatheteruntersuchung. Wieder wird mir ein Draht über die Leiste durch die Vene ins Herz für eine Gewebeprobe (Biopsie) geschoben. Gleichzeitig werden Blut genommen und Sauerstoffsättigung gemessen. Die nach Leiden übermittelten Werte sind weiterhin alarmierend. Ich bleibe als dringender Fall auf der Warteliste für eine Herzverpflanzung. Jetzt nur keine Infektion bekommen. In diesem Fall wäre eine Transplantation nicht möglich.

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Bisher gilt für die Organspende die freiwillige Zustimmungslösung. Nur wer einen Organspende-Pass besitzt oder dessen Angehörige zustimmen, kommt als Spender infrage. Nach dem neuen Gesetz - der Entscheidungslösung - sollen künftig alle Bürger befragt werden, ob sie im Fall eines Hirntods einer Organspende zustimmen. "Wenn Leute das ablehnen, muss man das akzeptieren", sagt Reichart, international anerkannter Experte und langjähriger Chef der Münchner Herzchirurgie. Viele Menschen zweifeln, ob der Hirntod tatsächlich das Ende des Lebens bedeutet. "Keiner ist vom Hirntod je zurückgekommen", sagt Reichart, der 1983 in Deutschland die erste kombinierte Herz-Lungen-Transplantation erfolgreich durchgeführt hatte.

Skeptiker wie der Geschäftsführende Vorstand der Deutschen Hospiz Stiftung, Eugen Brysch, sind für eine Verschiebung der Gesetzesinitiative. Erst sollte eine breite Diskussion und Information über den Hirntod in der Öffentlichkeit stattfinden. Brysch ist dagegen, dass private Organisationen wie die Ärztekammer über die Organverteilung entscheiden. Zudem kritisiert er, dass die meisten Kliniken ihrer Meldepflicht von potenziellen Organspendern nicht ausreichend nachkämen.

Bei vollem Bewusstsein werden mir die Elektroden eines Defibrillators angelegt

Mein Zustand verschlechtert sich rapide. Mehrmals muss Wasser aus dem Lungenfell (Pleura) abpunktiert werden, zum Atmen brauche ich Sauerstoffunterstützung. Plötzlich wird die Tür zum Krankenzimmer aufgerissen, Ärzte und Krankenschwestern stürmen mit einer kleinen Maschine ins Zimmer. Mein Monitor hat Alarm geschlagen. Es geht um Leben und Tod. Mein Herz rast. Bei vollem Bewusstsein werden mir die Elektroden eines Defibrillators angelegt. Ein starker Stromimpuls lässt mich im Bett Zentimeter hoch springen, beruhigt aber mein Herz – akute Gefahr vorbei. Jetzt kommt Angst auf, das einsame Warten auf ein Spenderorgan wird zur Verzweiflung. Es gibt keine Besserung. Wieder muss ich lebenserhaltend defibrilliert werden.

Dann wird es dramatisch. Mein Herz droht endgültig auszusetzen. Das Ärzteteam plant eine Notoperation. Mir sollen vorsorglich ein Herzschrittmacher und ein Defibrillator am Herz implantiert werden, ein riskanter Eingriff in meinem Zustand. Hoffnungslosigkeit macht mich völlig apathisch. Stumm hält mir meine Frau die Hand.

Und dann geschieht das Wunder. Am Abend vor dem geplanten Eingriff kommen plötzlich sechs Ärzte ins Krankenzimmer. "Wir haben ein passendes Herz für Sie, ein gutes", sagt Professor Reichart. Nach über drei Monaten Wartezeit die Erlösung. Der Hubschrauber und das Explantationsteam sind unterwegs. Irgendwo in Deutschland, den Benelux-Staaten, Österreich, Slowenien oder Kroatien ist ein Mensch gestorben, der vor seinem Tod einer Organspende zugestimmt hat. Nähere Einzelheiten werde ich nie erfahren.

Erst später verstehe ich: Es ist alles gut gegangen

Rund vier Stunden nach der frohen Botschaft von dem Spenderherz beginnt kurz vor Mitternacht die Operation. Gegen vier Uhr morgens schlägt ein neues Herz in meiner Brust. Als ich aus tiefer Bewusstlosigkeit aufwache, sitzt meine Frau lächelnd am Krankenbett. Mir ist nicht bewusst, was hinter mir liegt. Ich kann weder Zeit noch Raum begreifen. Erst später verstehe ich: Es ist alles gut gegangen.

Chefarztvisite am vierten Tag nach der Transplantation. Das Team in weißen Ärztekitteln, nur der Chef - wie meistens – in blauem Blazer mit glänzenden Messingknöpfen. "Wie geht’s heute", fragt Reichart routinehaft. "Ganz gut", flunkere ich, obwohl ich mich, total verkabelt, kaum bewegen kann und ständig wegdämmere. Reichart fragt seinen Oberarzt meine Daten ab: Blutdruck, Herzfrequenz, Enzyme. Alles scheint im grünen Bereich zu sein. Er verabschiedet und will schon zum nächsten Patienten gehen. Da dreht er sich plötzlich um und fragt: "Mögen‘s a Bier?" Mir verschlägt es Sekunden lang die Sprache. Ich bin doch frisch herztransplantiert. Ein Bier? Doch dann fasse ich meinen Mut zusammen und sage "Ja". "Der kriegt a Bier", sagt Reichart mit seinem wienerisch-bayerischen Akzent und verschwindet. Tatsächlich bringt mir der Pfleger Minuten später einen viertel Liter Münchner Bier im Schnabelbecher. Es schmeckt komisch.

Ich bin einer der Glücklichen von den bundesweit rund 350 Herzempfängern pro Jahr

Vor mir liegt noch ein langer Weg. Komplikationen stellen sich ein. Die Nieren versagen, Wassereinlagerungen müssen punktiert und bakterielle Infektionen behandelt werden. Doch das neue Herz arbeitet tadellos. Ich liege fast bewegungslos im Bett, kann in den ersten Tagen nicht allein essen, bin hilflos und werde von Halluzinationen geplagt. Über acht Wochen dauert es, bis die Nebenerkrankungen abklingen. Danach kann ich durch das lange Liegen nicht mehr gehen. Erst in der Rehabilitation lerne ich mit dem Rollator wieder mühsam laufen, mich selbstständig zu waschen und allein zu essen.

Langsam realisiere ich, einer der Glücklichen von den bundesweit rund 350 Herzempfängern im Jahr zu sein. Als ich neun Monate nach der Transplantation auf Skiern stehe, vorsichtig und etwas wackelig, steigt in mir Dank auf. Dank für die großherzige Entscheidung einer Spenderin oder eines Spenders, die mich leben lässt.

dpa