Wenn die Glocke in Mitterfirmiansreut im bayerischen Wald läutet, ruft sie zu einem Gottesdienst in das derzeit kälteste Gotteshaus Deutschlands. Denn die Kirche an der tschechischen Grenze besteht komplett aus gefrorenem Wasser. Einige hundert Tonnen Eis und Schnee formen sich zu einem beeindruckenden Gewölbebau, 26 Meter lang und elf Meter breit. Der Turm ragt 17 Meter hoch in den Himmel. Nur die Glocke wurde in Stahl gegossen - der Rest ist gefrorenes Wasser. Die Kirche ist ein Meisterwerk statischer Berechnung. Der Bau wird von keinem Gerüst gestützt. Die weiße Pracht hält und ruht allein in sich. Kein Wunder, denn das Skigebiet liegt knapp unter dem 1.140 Meter hohen Almberg. Kräftig weht vom Nordosten der raue Böhmwind.
Von seiner äußeren Gestalt her erinnert der Bau an eine Schneewehe. Die entstandene Form resultiert aus den Möglichkeiten, wie man aus Schnee überhaupt begehbare Gebäude bauen kann. "Wenn man mit Schnee baut, hat man nicht viele Freiheiten. Damit die Decke hält, griffen wir auf altbewährte Formen aus der Gotik zurück: Spitzbogen und gewölbte Formen", erklärt Alfons Döringer vom Passauer Architekturbüro koeberl doeringer. Der aus Eis errichtete spitzbogige Eingang schimmert bläulich im Sonnenlicht. Durch den sich aufbauenden Druck eines Bogens oder Gewölbes festige sich die weiße Pracht von selbst. Flache Decken, wie wir sie heute kennen würden, seien mit gefrorenem Wasser nicht möglich, erklärt der Architekt.
Menschliche Körperwäre ist der natürliche Feind von Eis
Der Innenraum besteht komplett aus Eis und Schnee. Am Ende des Kirchenschiffs steht der weiße Altar, selbst das Kreuz ist gefroren. Durch die Schlieren erscheint die gewölbte Decke der Kirche fast marmoriert. Eigentlich hätten 190 Menschen Platz, wegen der menschlichen Körperwärme dürfen sich allerdings maximal 80 Personen im Inneren versammeln. Bei einem längeren Aufenthalt, wie bei einem Wortgottesdienst, erhalten lediglich 40 Besucher Einlass. Der Bau will betrachtet und bestaunt werden. Deswegen laden auch nur wenigen Sitzblöcke zu einem längeren Verweilen ein.
Mit dem Neubau wollen die Bergdorf-Bewohner an ihre kreativen Vorfahren und an die erste Schneekirche vor 100 Jahren erinnern. Alles begann mit einem Prozess. Damals wurde dem abgelegenen Dorf keine eigene Kirche genehmigt. Um einen Gottesdiens besuchen zu können, mussten die Bewohner, unter ihnen viele Kinder, in das acht Kilometer entfernte Mauth laufen. Der eineinhalbstündige Fußmarsch war beschwerlich und in den langen Wintermonaten oftmals nicht möglich.
Bildhauerin Julia Herzig, Mitglied des Fördervereins "100 Jahre Schneekirche Mitterfirmiansreut", erzählt von der Misere, die im Winter 1910/1911 ihren Gipfel erreichte: "Wegen eines Schneesturm konnten die Mitterfirmiansreuter die Christmette im Nachbarort nicht besuchen. Der Weg wäre zu gefährlich gewesen." Um auf diesen Notstand öffentlichkeitswirksam aufmerksam zu machen, kam die Idee auf, sich eine eigene Kirche zu errichten. Gebaut wurde mit dem Material, das im Bayerischen Wald im Winter in Massen verfügbar ist: Schnee.
Vorbild war der Passauer Dom
Georg Baumgartner, der damalige Kooperator von Mauth, unterstützte die Mitterfirmiansreuter in ihrem Wunsch nach einer eigenen Kirche. Ihr Plan ging auf: Die Schneekirche wurde im Februar 1911 nach dem Vorbild des Passauer Doms mit zwei Türmen errichtet. Sie war kleiner als ihr moderner Nachfolgebau, aber immerhin 14 Meter lang, sieben Meter breit und fast vier Meter hoch. Bis sie im Mai in der Frühjahrssonne dahin schmolz.
Die Schneekirche von 1911. Foto: Förderverein 100 Jahre Schneekirche Mitterfirmiansreut e.V.
Bis die Kirche restlos von der Oberfläche verschwand, sorgte sie für mächtig viel Trubel: "Fast alle deutschen Zeitungen berichteten über die Kirchennot des Bergdorfes, so dass 6.000 Mark Spenden für die Erstellung einer festen Kirche gesammelt werden konnten", sagt Herzig. Weil die Kirche auch in amerikanischen Illustrierten veröffentlicht wurde, kamen auch Spenden aus Amerika.
"Mit der Zeit wuchs das Vermögen des damaligen Kirchenbauvereins auf 9.000 Mark an – und fiel schließlich komplett der Inflation zum Opfer. Das ganze Geld war weg", erzählt Herzig weiter. Spenden von böhmischer Seite ermöglichten schließlich in den nachfolgenden Jahren den Bau einer steinernen Schulkapelle im Jahre 1923. Zwei Jahre später wurde sie geweiht, 1932 vergrößert und dem heiligen Josef gewidmet.
In Deutschland ist Schnee Last, aber kein Baumaterial
100 Jahre später erinnern die Mitterfirmiansreuter an ihre kreativen Vorfahren, indem sie wieder eine Kirche aus Schnee bauen. Wo der Vorgängerbau stand, liegt heute der Friedhof. Deswegen wurde das Plateau im Oktober 2011 an anderer Stelle ausgebaggert. "Die neue Kirche sollte eine moderne Form erhalten und nicht nur als Skulptur dastehen, sondern nutzbar sein", erzählt Architekt Alfons Döringer. "Wir sind die ersten, die in Mitteleuropa eine selbsttragende Kirche aus Eis und Schnee gebaut haben." Das ist alles andere als einfach.
"In Deutschland gibt es keine Unterlagen, die einen darüber informieren, wie man mit Schnee zu bauen hat. Die weiße Pracht ist in Deutschland kein zugelassener Baustoff", stellt der Planer fest. In Deutschland sei der frostige Niederschlag nur als Einwirkung auf Bauwerke, damit als Last, definiert. Trotzdem hat das Architekturbüro mit der Genehmigungsbehörde eine Lösung für eine bauliche Zulassung gefunden. Eishotels in Skandinavien hätten es da leichter: Sie würden sich auf das Gewohnheitsrecht beziehen.
Um den deutschen Bauanforderungen gerecht zu werden, holten sich die Architekten ein Ingenieurbüro hinzu, die das gesamte Bauwerk zunächst einmal wie ein übliches Betonbauwerk betrachteten und so den statischen Nachweis errechneten . Die zentrale Frage war, wie viel Druck gefrorenes Wasser aushält. Damit die Schneekirche für die Besucher sicher ist, wird jeden Morgen die Luft- und Schneetemperatur mit einem Laser gemessen. Optimal für den Bau sind knackige Minustemperaturen, "die Kirche hält aber auch ein paar Sonnentage aus", erzählt der Architekt. Dann werde die Außenschneedecke zwar dünner, dieser Schwund schneie aber relativ schnell wieder nach. Das Gebäude müsse man sich wie einen großen Schneehaufen im Frühjahr vorstellen. Der schmelze lange Zeit nicht weg, weil der Schnee sich praktisch selbst von unten kühle. Regen hingegen zerstört den Bau. Das Wasser lässt die Decke schwer werden, Einsturzgefahr droht.
Gesegnet, nicht geweiht: Die Vergänglichkeit reizt die Besucher
Abends kommt die Kirche erst richtig zur Geltung. In der Dunkelheit des bayerischen Waldes thront sie über dem kleinen Bergdorf. In die Eisblöcke wurden blaue Leuchten gesetzt, die das Eis von innen erhellen. Ihr Licht strahlt weit in den Nachthimmel und in das Dorf hinein. Am 28. Dezember 2011 wurde der Bau von Dekan Kajetan Steinbeißer im Beisein von 2000 Besucher gesegnet, nicht geweiht. Sie wurde unter anderem deshalb nicht geweiht, weil sie aus Schnee besteht.
"Es liegt aber auch an der Intention. Eine Kirche wird für dauerhaften Gebrauch und lange Zeit geweiht, wenn sie einer Gemeinde als Gotteshaus dienen soll. Der Wunsch und Wille aus dem Glauben heraus ist Voraussetzung. Dies ist in der Vergangenheit geschehen: die Gemeinde wollte eine eigene Kirche - auch für künftige Generationen", erklärt der Dekan. Auf jeden Fall sei ein neuer mystischer Ort entstanden, der zum Gebet einlade. Auf ihn wirkt die Kirche "kühl, provisorisch und vergänglich. Sie macht einfach neugierig, weil sie nicht gewöhnlich ist."
Zwei Taufen fanden bereits in der eisigen Atmosphäre statt. Das Taufsakrament wurde noch in der steinernen Kirche im Dorf gespendet, das Segensgebet aber in der Schneekirche gesprochen. "Wenn der Wettergott will, kann die Schneekirche noch bis März halten", sagt Döringer. Sie ist ein Wahrzeichen der Vergänglichkeit, im Gegensatz zu den Kirchen aus Stein. Der Reiz für viele Besucher resultiert aus der Vergänglichkeit des Materials. Wenn alles geschmolzen ist, existiert sie nur noch in den Erinnerungen ihrer Besucher.
Die Pfarrer stehen für den Wortgottesdienst Schlange
Die Anstrengungen der Mitterfirmiansreuter im Winter 2011/12 haben sich gelohnt. Ihr Vorhaben kann über mangelnde Aufmerksamkeit nicht klagen. Neben zahlreichen deutschen Medien haben bereits ein Radiosender in Brasilien, eine Tageszeitung in China und auch die "Times" in London über das weiße Gotteshaus berichtet. Die Kirche, die im eigentlichen Sinne keine wirkliche Kirche ist, lockt Gläubige und Touristen gleichermaßen an. Rund 15.000 Besucher haben bis Januar 2012 das empfindliche Monument besucht. Auch unter Pfarrern ist die weiße Stätte beliebt: Jede Woche hält ein anderer den ökumenischen Wortgottesdienst. Am 15. Februar wird erstmals eine evangelische Pfarrerin die Zeremonie feiern.
Die Schneekirche ist je nach Wetterlage voraussichtlich bis Anfang März 2012 zu besichtigen. Öffnungszeiten sind täglich von 10 Uhr bis 18 Uhr, montags bis 22 Uhr. Der Eintritt kostet fünf Euro. Kinder bis 14 Jahre sind frei. Informationen gibt das Schneekirchenbüro, Bischof Firmian Sraße 29, 94158 Mitterfirmiansreut, Telefon: 08557/973757, E-Mail: info@schneekirche.de. Wer sich vorher ein Bild machen will, kann die Schneekirche sich in ihrer Webcam anschauen.
Markus Bechtold ist Redakteur bei evangelisch.de.